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dennoch wie unendlich verschieden ist es in beiden Ländern! Es ist vergeblich gegenwärtig schon von einem wirklichen germanischen Proletariat zu reden; ja vielleicht ist es nicht zu kühn zu behaupten, daß es nie ein solches geben wird. Die Darstellung des Proletariats in der neuesten Geschichte der Civilisation überhaupt muß hier daher schließen. Die Untersuchung über das allgemeine Wesen desselben kann nur im Reiche der Gedanken weiter gehen.

Doch damit eröffnet sich uns ein anderes, bestimmteres Gebiet. Es beginnt jenes Element in dem einzelnen Volke sein selbstständiges Leben zu entwickeln, und hier ist es, wo wir ihm folgen wollen. Frankreich vor allen, dieses Land der That, zieht den Blick der übrigen Welt auf sich. In ihm wie in feinem anderen hat das Proletariat eine Geschichte gehabt, die reich an ernsten Ergebnissen und Lehren ist. Seine Gegenwart felber aber bietet ein eigenthümliches Bild dar, das niemand ein beruhigendes nennen wird. Die Aufmerksamkeit der gebildeten und befizenden Welt, das Interesse des Geschichtschreibers und die Forschung des Denkenden finden hier einen gleich_reichen Boden für die Betrachtung der Gründe und der Kämpfe, die der Name des Proletariats bezeichnet. Es war nicht möglich, bei der einfachen Darstellung des Socialismus und Communismus stehen zu bleiben; das innere Band, daß sie beide mit jenem verbindet, hat uns gezwungen, nach der lezten Basis aller jener Erscheinungen zugleich zu suchen, und sie nicht blos als eine daseiende Gestaltung der Gesellschaft, sondern als ein Ergebniß ihrer Geschichte zu begreifen. Diese Geschichte selber aber ist eine von denen, wo es auch dem Wollenden nicht möglich wäre, sie aus äußeren Ereignissen zusammenzustellen, als ein Bild der Formen, die sich zeitlich verdrängten und folgten. Sie ist ein inneres Leben, und will als solches erkannt sein. Wer in der Entwicklung des Proletariats in Frankreich nicht eine Arbeit der Geschichte sieht, der wird weder sie selber, noch auch die Bedeutung begreifen, die er dennoch diesem Element in den heutigen Zuständen des vielgequälten Landes nicht abzusprechen vermag.

Und damit stehen wir vor der leßten Frage, die das Bisherige mit dem Folgenden verbindet. Wir sezten das französische Proletariat als ein eigenthümliches, dem französischen Volke als solchem angehörig. Soll sich diese Anschauung der Volksthümlichkeit nicht, wie es nur zu oft für die Klarheit der Darstellun=

gen geschieht, in ein unbestimmtes, nebelhaftes Wesen auflösen, so müssen wir den festen Kern herausheben, durch den es eben nur in diesem Volke, und eben nur so entstehen konnte. Man kann hier bei der reinen äußeren Geschichte stehen bleiben, und sich mit dem Einflusse begnügen, den diese auf die Ansprüche und die Gestaltung des Proletariats allerdings nur hier gehabt hat. Aber das kann nicht genügen, obwohl es von der höchsten Be= deutung ist. Denn das Proletariat hat von den ersten Spuren desselben bis mitten in die Gegenwart seine ganze Entstehung, seinen ganzen Glauben und sein Recht auf Einen Gedanken gebaut, der nur Frankreich angehört. Wir haben gezeigt, wie der Gegensag zwischen der Idee der Civilisation und dem Zustande der Basis aller gesellschaftlichen Ordnung des Besizes, durch den Begriff der Persönlichkeit geweckt ward. Dieser Begriff aber ist so allgemein, daß er, ohne seine Bestimmung zu verlieren, die verschiedensten Gestaltungen annehmen kann; diejenige nun, in der ein Volk ihn in seinem allgemeinen Bewußtsein seßt, muß daher die Richtung bedingen, in der der Widerspruch mit dem Gegebenen ihm zum Bewußtsein kommt; sie seßt das Recht, das für die Person gefordert wird. Diese Gestalt jener Idee im französischen Volke aber bezeichnet sich uns einfach mit dem bes kannten Namen der „Égalité." Man suche nicht nach einer Bestimmung dessen, was man sich bei diesem Wort gedacht hat. Es beginnt als eine Ahnung, sezt sich als Negation, erhebt den Kampf mit dem Bestehenden, breitet sich aus über Staat, Verwaltung, Recht, Kirche, Gesellschaft, Besiß; es selbst ist nur Bewegung, und eine Bewegung, die ihr eignes Ziel nicht zu erfassen vermag. Was sie will, ist keinem klar, was sie verneint, fühlt oder weiß jeder; und mitten in dieser ihrem Ende noch fernen Arbeit steht das heutige Frankreich. Denn eben jene vage Idee ist der eigentliche Mittelpunkt des Volksbewußtseins geworden; und auf ihr beruht ihm die Wahrheit und die Möglichkeit alles dessen, was erstrebt und vertheidigt wird. Wie sich aber in der begrifflichen Entwicklung die eigentliche Bedeutung der Idee des Proletariats mit der der Persönlichkeit identificirt hat, und wie aus dieser legteren uns die Lösung aller Zweifel ergab, so hat in Frankreich die nichtbefizende Claffe den Gedanken der Egalität als Loosungswort aufgenommen, und will keine andre Gesellschaft, als die durch sie bestimmte. So gewinnt das Princip der Egalität, diese französische Gestalt der

Idee der Persönlichkeit, seine wahrhaft geschichtliche Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft im Allgemeinen, und für die des Proletariats im Besondern. Darum stehen wir nicht an, dasselbe durch alle Stufen hindurch zu entwickeln, und diese Geschichte als die nothwendige Basis für das vollkommne Verständ niß aller socialistischen und communistischen Bewegungen anzuerkennen. Denn nirgends vermag man wie hier diesem Princip schrittweis durch die einzelnen Phasen seiner Entwicklung bis zu der legten Umgestaltung desselben, dem heutigen Communismus zu folgen; und so wird uns die folgende Darstellung die Gestalt, in der dem französischen Volke die Idee der Persönlichkeit, und damit die Aufgabe der Civilisation langsam und nicht ohne schwere Irrthümer, aber dennoch als sein geistiges Eigenthum zum Bewußtsein kommt, der wahre Hintergrund für die einzelnen Erscheinungen, die den bestimmteren Inhalt der gesellschaftlichen Gegenwart Frankreichs bilden.

Die

Entwicklung des Egalitätsprincips in der französischen Geschichte.

II.

Gegenfäße in der französischen Gesellschaft vor der Revolution.

Gewöhnlich ist es die rein politische Seite, von der aus man die Ereignisse der lezten funfzig Jahre in Frankreich betrachtet; und allerdings ist keine weder so glänzend, noch mit so scharfer Schneide der Vergangenheit zugekehrt. Doch so wichtig und so gewaltig sie ist, so füllt sie dennoch nicht das ganze Volksleben aus; es giebt einen Begriff, der allgemeiner ist, wie der des Staats, und den wir einer Darstellung zu Grunde legen müssen, die von vorne herein die blos staatlichen Bewegungen eines Volkes nur als ein nebengeordnetes Moment sezen muß. Diesen Begriff bezeichnet uns das Wort: die Gesellschaft.

Es ist höchft characteristisch für die beiden nächsten germa

nischen Nachbarvölker, den Grundbegriff zu vergleichen, den ihre Philosophie für das Rechtssystem der menschlichen Gemeinschaft zum Grunde legt. Deutschland hat seit dem vorigen Jahrhundert sich mit erneuerter Liebe der Rechtsphilosophie zugewendet; Frankreich hört nicht auf fortzusehen, was die Denker seiner Vergan= genheit begonnen haben. Aber während man in Deutschland selbst schon lange vor seinen großen Philosophen den Begriff des Staats suchte, das Wort des Staats und des Rechts identificiren wollte, und auf diesen lezten Gedanken das ganze System der Berechtigungen und Verpflichtungen baute, traten die französischen Schriftsteller mit einem anderen Grundbegriffe auf, der der deutschen Rechtsphilosophie nun in seiner eigentlichen Bedeutung zum Bewußtsein gekommen ist. Man wird fast bei keinem Philosophen jenes Volkes den Gedanken des Staats als die Basis ihrer Entwicklung finden, ja es giebt gar kein französisches Wort, das unsern Ausdruck ,,Staat“ zu übersehen im Stande wäre; bei allen dagegen erscheint der Begriff der Gesellschaft, die ,,Societé"; sie reden von einem,, état de la societé", von der,, forme de la societé", vom,,droit social", vom ,, contract social"; aber es ist, als ob mit Ludwigs XIV. Ausspruch: „, l'état c'est moi" die philosophische Untersuchung über den mit der Person des Königs identificirten Staat vollkommen verschwunden ist. An seine Stelle dagegen tritt der einseitigere Begriff der Regierung,,, du gouvernement"; und scheidet sich die Rechtsphilosophie von Voltaire bis Lerminier wesentlich in diese beiden Theile, Gesellschaft 'und Regierung.

Die bestimmtere Entwickelung der staatlichen und rechtlichen Principien der Philosophie ins Einzelne zu verfolgen, gehört der Geschichte der Rechtsphilosophie an. Indessen liegt der Grund dieser Richtung in unmittelbarer Nähe, und um diesen Grund ist es uns zu thun. Der Begriff der Gesellschaft nimmt ein Moment in sich auf, durch das diese sich wesentlich von dem Staat unterscheidet, denn der leztere ist die Einheit aller Persönlichkeiten; er entwickelt und bestimmt grade den Theil des Daseins der Einzelnen, mit dem sie der Einheit angehören; er ist die Form der Unpersönlichkeit in allen Personen, die sie eben zu absoluten Gliedern desselben macht. Die Gesellschaft dagegen sezt als höchsten Begriff eben den Einzelnen; sie betrachtet ihn in seiner eignen Sphäre, die ihm als absolut berechtigter Person zukommt, sei es nun, daß sie seinen Antheil am Staatswillen,

oder an dem Besize, oder an der Ehre, oder Anderem vorzüglich im Auge hat. Wo sich aber ein innerer Widerspruch entwickelt, da wendet sich zugleich auch die Kraft des geistigen Lebens einer Nation hin, wie in einem kranken Körper die Säfte dem leidenden Theile zuströmen. Und werfen wir einen Blick auf den Zustand der Gesellschaft Frankreichs vor der Revolution, so kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Geseße, die ihre Form bedingten, noch unmöglicher waren, wie das Staatsrecht, auf dem die Regierung beruhte. Die ganze Gestalt derselben im höhern Sinne des Wortes ging in allem Wesentlichen aus Einem Princip hervor, das allenthalben mit seinem geschichtlichen Recht, aber auch mit seinen traurigen Folgen eingriff: dem der Standesunterschiede. Die Stände gehören ihrem Wesen nach nicht in den Begriff des Staats; sie können nur in dem der Gesellschaft ihre Bedeutung finden. Und hier allerdings waren sie grade in Frankreich für die Wohlfahrt des ganzen Volkes nur zu entschieden ausgeprägt; so entschieden, daß selbst das absolute Recht des souverainen Königs vor ihnen in den Hintergrund trat, sowie der Kampf begann, den die Denker jener Zeit vorhersahen. Als Ludwig XV. starb, und Ludwig XVI. den Thron bestieg, war der König absoluter Herr über den Staat wie über den Einzelnen; Freiheit, Leben und Eigenthum lag in seiner Hand. Um den Thron schaarte sich der Stand des Adels; in seinen Händen waren die höchsten Aemter, die höchsten Ehren und die höchsten Genüsse. Tief unter ihm stand der Tiers-État. Ausgeschlossen von der Nähe des Königs, dessen Vätern er einst die mächtigste Stüße gewesen, verdrängt von der Theilnahme an der Verwaltung dessen, was er durch Hingeben seines Eigenthums aufrecht halten. mußte, konnte er nicht einmal seine alten Rechte gegen Uebergriffe und Vernachlässigung schüßen. Schon hierin lagen Keime eines ernsten Zwiespaltes. Doch der Widerspruch beider hatte bestimmtere Haltpunkte. Zweierlei konnte den Adel berechtigen, die Theilnahme an der Staatsverwaltung, so weit sie einem Unterthan zugestanden ward, für sich in Anspruch zu nehmen. Zuerst der Besit; denn der Besig ist ein selbstständiges Moment im Staatsleben, und will als solches vertreten sein. Allein der Bürgerstand war gleichfalls Besizer; ja er war vielleicht reicher, als der Adel. Oder die höhere Intelligenz; aber hierin war der Bürgerstand den Adligen bei weitem überlegen. Somit entwickelt sich der Widerspruch, daß dasjenige, was die Theilnahme an der

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