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Ift jenes äußere Vorsichgehen, jenes Erheben der Niedrigstehenden, jenes Bereichern der Nichtbesigenden, weiter nichts als ein äußerliches Dasein? Oder liegt in dem Begriffe der Civilisation selber nicht das Geseß ihres eignen Ganges, die selbstbedingte Nothwendigkeit, nach der die ganze Bewegung des Volkslebens, die wir die Civilisation nennen, eben jene Verallgemei nerung vollziehen und immer aufs neue vollziehen muß, weil der Begriff nicht mit sich selber in Widerspruch treten kann?

Der Begriff der Civilisation enthält zuerst den der allgemeinen Güter, wie des Besizes, der Ehre, der Bildung, und andere. Der Begriff des Gutes seßt den des Besißenden. Enthält dieser Besigende wiederum das Allgemeine, so erscheint die Menschheit und ihr Besigthum, Welt und Leben. Allein der Begriff des Allgemeinen enthält den des Einzelnen, der Person. Dieser ist es, den die Civilisation dem Allgemeinen ges genüberstellt, und zwar indem sie das Allgemeine als allgemeines Gut bestimmt, zugleich als den Besißenden. Damit hat der Begriff des allgemeinen Gutes sich in den des Einzelnen Besizers aufgehoben; denn jezt ist es dieser, der es besizt; es giebt damit kein allgemeines Gut, nur den allgewaltigen Besißer des höchsten Besigthums. Der sich selbst entwickelnde Begriff macht die Bewegung, die die Geschichte ihm nachzeichnet; aus der unbestimmten Güter- und Regierungsgemeinschaft, in der der Einzelne noch nicht zur selbstständigen Berechtigung kommt, entsteht die einseitige Gewalt desselben in Adel und absoluter Souverainetät. Aber der Begriff ist noch unfertig, wie die Geschichte ihrem Ende noch fern ist. Aus dem Einzelnen entwickelt sich die Mehrheit; der Einzelne Besizer erschließt sich zur Vielheit von Befigenden. Alle find Inhaber der allen gleichen Güter; und indem wir diese lezteren als ihrem Wesen nach dieselben seßen, werden sie zu gemeinsamen Gütern. Und jezt scheint der Kreis geschlossen, denn die Einheit des Einzelnen Besizers und des allgemeinen Guts, die eben die Civilisation ist, ist nur so zu vollziehen, daß der Einzelne überhaupt in seinem Besize das allen anderen zugleich gemeinsame Gut wiederfinde. Doch in dem Gedanken der Vielheit liegt schon sein Gegensaß, der zweiten Vielheit in der Alheit; jene ist mithin nur ein Theil, ein Theil Aller besißt daher das allen seinem Wesen nach gemeine; der Widerspruch ist aufs neue da, und in der Geschichte treten uns die Stände entgegen. Es muß mithin ein zweiter

Schritt gethan, von dem Begriff der Einzelnen Person zu dem der Person überhaupt, der Persönlichkeit, hinübergegangen werden. Erst diese läßt jeden Unterschied der Abtheilungen fallen; denn, wie sich die Stände geschichtlich durch das äußere Zusammentreten der auf gleiche Stufe Gestellten bildeten, so entstand der Begriff der Vielheit nur aus dem Aneinanderrei hen von Einzelnen, das nicht durch die höhere Einheit, sondern blos durch den Gegensaß des Eins zu sich selber entwickelt ward. Durch den Begriff der Persönlichkeit aber findet jeßt der der Civilisation seine lezte Einheit. Der Einzelne, den sie als Besizenden dem allgemeinen Gute gegenüberstellte, hat sich zur Person überhaupt erhoben; die Persönlichkeit als solche soll das allgemeine Gut besigen; indem in aller Person dieser höchste Besiz verwirklicht ist, wird derselbe wieder ein allen gemeines, ein wahrhaft allgemeines Gut, und vor dieser gewaltigften Bewegung der Idee brechen die alten, an sich unwahren. Ständeunterschiede zusammen, und an die Stelle der absoluten Souverainetät tritt die Selbstherrschaft des Volkes. Damit löst sich der Widerspruch auf, den der Begriff der Civilisation scheinbar sezte. Ohne das allgemeine Gut anzuerkennen und zugleich demselben den Begriff des Einzelnen entgegenzustellen, ist die Civilisation vollkommen undenkbar; dennoch widersprechen sich alle Standpunkte, durch die sie hindurch geht, bis sie zu dem Erkenntniß gelangt, daß es erst der Begriff der Persönlichkeit als solcher ist, in dem das allgemeine Gut in seinem ganzen Reichthume zum Besige werden kann. Damit aber ist das absolute Gesez der Bewegung jener Güter und Rechte selber gefunden. Sie kann nicht stehen bleiben, bis sie ihren Inhalt jeder Persönlichkeit darzubieten, in jedem den absoluten Besizer zu vollziehen vermag. Es ist nicht möglich, wenn man denken will, anders zu denken. Bei diesem Resultate muß man anlangen, so wie man die Civilisation als einen, sich in seiner Bewegung vollziehenden Begriff dem erkennenden Geiste anzueignen sucht.

In welcher Periode des Geschehens wir stehen, bedarf keiner Bezeichnung. Es ist der eigentliche Lebensproceß unserer Gegenwart, eben jenes oft zu rasche Negiren des Esoterismus und der Exclusivität auf jedem Gebiete, eine tiefgreifende, aber unvermeidliche Aufgabe, eine Aufgabe, die erst mit dem heutigen Jahrhundert eine wahrhaft gemeine geworden ist.

Doch auch so noch stehen wir nicht ganz am Schlusse. Vermag der Mensch etwas gegen die Geschichte? Wahrlich, so wenig wie das Denken gegen sich selber. So sind denn auch wir nicht weiter wie die Vergangenheit? Auf einer anderen Stufe stehend, sind wir auch jezt noch jener Kraft gegenüber die uns hinaufgerückt, nicht mehr wie der Stoff, aus dem der Geist der Welt seine Geschichte bildet? Nein; eben hier ist es, wo der Reichthum unserer Zeit sich uns enthüllt. Wir fangen an, das Gefeß zu begreifen, dem wir folgen, und ahnen es, daß die ewige Nothwendigkeit zu unserer eignen werden kann. Langsam, unsicher noch, aber doch mit entschiedener Richtung, beginnen wir einen Willen zu haben, zu wollen, was wir zu läugnen nicht vermögen, und so wird uns aus dem Erkennen des Ganges der Geschichte das Gesez unsers eignen Wollens.

Und jest wenden wir uns zur thatsächlichen Wirklichkeit zurück. Stehen uns noch jene Erscheinungen, die sich täglich wiederholen, jene Ausbreitung der höchsten Besißthümer allein da, nichts als ein factisches Ergebniß? Ist die Forderung, die wir an den Staat und die Gemeinschaften in ihm richten, uns noch nichts anderes, als ein unflares Gefühl, daß hier eine ihrer höchsten absoluten Aufgaben sich ihnen erschließe? Und wir alle, die wir mit Wort und That, mit Liebe und Verstand dafür arbeiten, ist uns jener innere Drang, mit dem wir alle zur Theilnahme an dem Besten, was der Mensch hat, herbeirufen möchten, wirklich nur ein unbewußtes Müssen, mit dem wir in den Gang der Geschichte hineingedrängt werden, ihm in gedankenloser Unterwürfigkeit folgend? Nein; wir wollen es, weil wir nicht auch ein Anderes wollen können. Wir können die Idee der Persönlichkeit nicht anschauen, ohne ihre Bestimmung zur Vollendung auch in den höchsten Gütern des menschlichen Lebens zu seßen; und wir können die wirkliche Person nicht anerkennen, ohne in ihr die Idee der Persönlichkeit wiederzufinden mit all ihrer hohen Bestimmung. Manchem zwar mag es unmöglich erscheinen, daß dem so sei; wer hat denn, wenn er für Volksunterricht stritt, oder für die gleiche Ehre, oder über das Elend der Armuth nachsann, wohl jenen dialectischen Weg in sich vollzogen? Gewiß nicht alle; aber ist das an sich vorige Gesez so arm, daß es um ein gegenwärtiges zu sein, gerade eines logischen Bewußtseins bedurfte? Als ob es kein anderes Dasein für daffelbe gäbe, als seine dialectische Entwicklung! Wahrlich, es ist seiner selbst

gewiß genug, um sich nicht in der Unendlichkeit der Gestaltungen zu verlieren, in der es sich offenbart. Man löse sie auf, diese Vorstellungen der Liebe, der Menschenfreundlichkeit, des Bedürfnisses, des Liberalismus, dès Nußens, und wie sich alle die Saiten nennen, die bei jenem Gedanken in der Mannichfaltigkeit der Lebensanschauungen dem Einzelnen erklingen werden — hinter ihnen allen erscheint in der dunklen Tiefe unsres Bewußtseins als letter, tieffter Grund das Dasein jenes absoluten - Geseßes der heutigen Arbeit der Geschichte. Das ist es ja eben, wodurch unsre Zeit so gewaltig ist; wir haben kein höheres Besißthum, als dieses Erkennen.

Und wem es zweifelhaft sein mag, ob er sich selber dem eignen Resultat überlassen darf, der gehe mit ihm auf die neueste Geschichte zurück. Die gewaltigsten Umgestaltungen früherer Zeiten find die Revolutionen der Völker gegen eine bestimmte That, eine rasch dahergekommene, ungewohnte Unterdrückung. Der Reiz war von Außen gegeben; der Kampf suchte einen erklärten Feind. Der Keim der lezten Revolution dagegen lag nicht in der ge= waltsamen Tyrannei, nicht in einem Eingreifen in alte, an dem Heerde jedes Einzelnen eingebürgte Rechte und Sitten. Es war

ein Gedanke, der das Volk trieb; ein Gedanke, der durch Frankreichs That den anderen Völkern zum Bewußtsein kam. Und was enthielt jene Idee, nach der man rang? Wird man sich mit dem vagen Worte der Freiheit begnügen, wie fich jene Zeit damit begnügte?,, Was ist" - und noch ist diese Frage nicht allen beantwortet -,,des Freiesten Freiheit?" Und diese Freiheit, wäre sie ein bestimmter Begriff, ią wäre sie wirklich da, so ist sie dennoch nur ein Resultat; wo ist der Gedanke, der sie eben als Resultat fordert? Es ist umsonst; wir müssen weiter, hinaus über das dunkle und doch so mächtige Gefühl, das mit Sturmesgewalt über die Zeit unserer Väter hereinbrach. Hinter ihm liegt die selbstbewußte Wahrheit, die auch unentwickelt den Völkern den Glauben an die Berechtigung ihres Kampfes mit der Geschichte gab; und ohne diesen Glauben wäre die Revolution selber geistig unmöglich gewesen. Jene Wahrheit aber, die ihn erzeugte, ist keine andere als die der Berechtigung aller Person zu gleichem Besiz des allgemeinen Gutes; in den gestaltlosesten Kämpfen ist sie das Einzige, in dem ein fester Kern uns entgegen tritt. Und ob die Männer, die damals redeten und handelten, und die, deren staunender und hoffender Blick auf das

sich neu erzeugende Volk gerichtet war, ihn aussprachen oder wußten, fragen wir nicht; er war da, und was geschah, geschah durch ihn; und allein jene Idee vermag es, das Geschehene über den Bereich des Zufälligen, ja den des Unwahren zu erheben.

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Aber die Revolution ist vollendet; im wirklichen Leben ist das alte Recht der Stände gestürzt, die ihrem Wesen nach allgemeinen Güter sind auch ihrem Rechte nach jedem Einzelnen zur Erreichung und zum Genuß dargelegt, und gemeinsam arbeitet die Gegenwart daran, die ganze Masse des Volks durch geistige und materielle Hülfe zu der Höhe zu erheben, die in jedem Einzelnen durch die Idee seiner Persönlichkeit bedingt wird; Reiche des Geistes ist der Schritt gethan, der uns wenn auch langsam, so doch sicher zu erkennenden Dienern des allgemeinen Gesezes macht; wir beginnen zu begreifen, was durch uns geschieht. Ist nun hier nicht der Kreis geschlossen, in dem sich der Begriff vollzieht? Stehen wir nicht wirklich auf der Stufe, von der aus es ewigen Fortschritt, aber keinen Kampf mit einer Negation ihrer Forderung giebt? Mag auch manches, und manches Große fogar in der Bewegung der Civilisation noch zu erreichen fein zwischen der Verwirklichung desselben und der Gegenwart liegt nur die Zeit, und mit dieser darf der Einzelne nicht rechten. Wie ist es in diesem lebendigen, wahren, bewußten Fortschreiten möglich, aufs Neue vor einer Frage zu stehen, an deren Lösung die Entwicklung der Civilisation selber scheitern zu wollen scheint? Wie ist es möglich, daß mitten in dieser Welt, die das Gesetz ihrer Bewegung erkennt und ihm folgt, dennoch der Keim eines Zweifels sich zu entfalten beginnt, der sich vielleicht zu einem ernsteren und vernichtenderen Kampf entwickeln wird, als ihn selbst die Revolution gesehen?

Werfen wir einen Blick auf die wirklichen Zustände der Gesellschaft. Allerdings ist ein großer Theil mitten in dem Fortschritt, der den Charakter unsrer heutigen Zeit bildet. Aber ein anderer, nicht minder großer steht noch tief, sehr tief unter seiner Bestimmung. Noch herrscht Rohheit, Mangel an Bildung, Armuth des inneren wie des äußeren Lebens in der niederen Classe des Volkes. Hier ist ein weites Feld für die werdende Civilisation. Warum schreitet sie eben hier nicht rascher vorwärts, wo doch der Widerspruch, in dem ihre Forderung zum wirklichen Leben steht, am tiefften begründet und am schärfsten hingezeichnet

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