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Nachtheile neben seinen Vortheilen; das wahre Dogma muß ein andres sein, ein Dogma, das mangellos dasteht.

Dies ist der kritische Theil des Nouveau Christianisme; wie viel Neues für Frankreich in demselben enthalten ist, dürfen wir allerdings nicht vom deutschen Standpunkte aus messen wollen. Allein es fehlt neben jenen negativen Säßen nun noch das positive Element, das Dogma selbst. Hier aber ist Saint-Simon arm, sein Gefühl muß ihm an die Stelle des Erkennens treten, und als einzigen Grundsat stellt er folgenden, zwar innerlich reichen, aber unentwickelten Sag auf:,,In dem neuen Christenthum wird alle Moral unmittelbar von folgendem Princip abge= leitet sein: Die Menschen sollen sich gegenseitig als Brüder betrachten. Dies Princip, dem primitiven Christenthum angehörig, wird eine Verklärung erhalten, und in seiner Wiedergeburt sich als den Grundsaß darstellen: die Religion muß die Gesellschaft dem großen Zwecke der schnellsten Verbesserung des Looses der ärmsten Classe entgegenführen." Damit ist die Religion eine sociale Religion geworden; ihr Ausgangspunkt ist der Zustand der menschlichen Gesellschaft, die Zurückführung des irdischen Glückes. Christus sagt:,, mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Das Wort ist mißverstanden. Es muß der Religion die finnliche Seite zurückgegeben werden, und der ewige Kampf zwischen Materie und Erkenntniß, zwischen Geist und Leib versöhnt in ihr uns entgegentreten. Vag und unklar schweben diese Ideen an SaintSimon vorüber; er weiß sie nicht festzuhalten, und sie zu zwingen, eine bestimmte Gestalt vor seinen Gedanken anzunehmen. Man sucht umsonst nach einem System; und mit Recht wird man auf ihn das anwenden, was er von Luther sagt:,,Il a bien critiqué, mais pauvrement doctriné. “

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Doch eben dies unbestimmte Leben der allgemeinen Gedanken in ihrem ersten Keimen ist unendlich anziehend für die, in denen jene einen Anklang finden. Der Nouveau Christianisme war daher die unerschöpfliche Fundgrube für die Schüler Saint-Simons, und das Stichwort für ihre Behauptungen. Wie viel derselbe gewirkt hat, läßt sich nicht begränzen; aber was er enthält, werden wir jezt zu beurtheilen wissen, damit nicht Saint-Simon und der Saint-Simonismus, wie es nur zu oft geschieht, uns in Ein ununterscheidbares Ganze zusammenfließe.

Als Saint-Simon seinen Nouveau Christianisme beendet hatte, begannen seine legten Kräfte ihn zu verlassen. Er beschäf

tigte sich damals mit der Gründung eines Journals zur Verbreitung seiner Ideen; eine Sache, die bekanntlich sehr schwierig in Frankreich ist. Dies Journal, Le Producteur, sah er selbst nicht erscheinen; am 19. Mai 1825 starb er in den Armen seiner Schüler, umgeben von der eifrigsten Sorgfalt und Liebe derselben. ,,Als er fühlte, daß sein Ende nahte, erzählt L. Reybaud, ,,rief er die Vertrauten seiner Gedanken vor sein Bett, und sagte:

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Ihr geht einer Zeit entgegen, wo gut combinirte Anstrengungen zu einem ungemessenen Resultat führen müssen; die Frucht ist reif, Ihr werdet sie pflücken. -- Der leßte Theil meiner Arbeiten, der Nouveau Christianisme, wird nicht sogleich begriffen werden. Rodrigues, ""- sich an seinen liebsten Schüler wendend-,,,,vergiß es nicht! Erinnere Dich, daß man begeistert sein muß, um große Dinge zu vollbringen! - Mein ganzes Leben faßt sich in Einem Gedanken zusammen: allen Menschen die freieste Entwicklung ihrer Anlagen zu versichern. Es entstand ein Still

schweigen; nach einigen Minuten fügte er schon im Todeskampfe hinzu:,,,,Acht und vierzig Stunden nach der zweiten Publikation wird sich die Partei der Arbeiter bilden. Die Zukunft ist unser." " Als er dies gesagt hatte, hob er die Hand nach seinem Kopfe und starb."

Es ist zweierlei nicht zu läugnen, wenn man auf das bewegte Leben, das sich hier schließt, den Blick richtet. Saint-Stmon hat selten seine Unklarheiten und Irrthümer erkannt und überwunden, und stets den Werth seiner eignen Arbeiten sehr hoch angeschlagen. Dennoch ist er Einer von denen, die dem inneren Drange ihres Gedankens ihr äußeres Glück geopfert haben, und diese Männer sind selten. Das wird uns mit seinen Fehlern aussöhnen, und sein Leben, wenn auch für Andre, doch für ihn selbst als ein nicht verfehltes anerkennen lassen.

II. Die Saint-Simonisten.

Was ist nun, wenn wir auf das Leben und die Werke Saint-Simons zurückschauen, mit dem was er gethan hat, wahrhaft gewonnen? Hat er die Idee einer Wissenschaft der Gesellschaft, die ihm vorschwebte, vollzogen? Hat er im Volke selbst einen vollendeten Grundgedanken zum Bewußtsein gebracht? Ist er gestaltend, von wirklichem Einfluß auf die Elemente, die im Kampfe begriffen sind, als er abgerufen ward? Kurz hat er schon die Lehre gepredigt, die man bald nachher als den Saint

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Simonismus vor den Augen des erstaunten Frankreichs geltend machen wollte?

Von allem diesen ist wenig oder nichts durch ihn selber geschehen. Seine Lehre steht noch vollkommen unausgebildet da; wir finden in ihr weder den Grundsaß der Aufhebung des Erbrechts, noch den der Berechtigung der Frauen, noch ein staatliches oder kirchliches System; ja die meisten dieser Momente sind nicht einmal angedeutet, sondern schlummern noch als blos mögliche Consequenzen in einem organischen Princip, was selbst noch nicht entwickelt ist. Man darf dieses nie vergessen, um die Geschichte der ersten socialistischen Schule richtig zu verstehen; und es ist im Grunde mehr die Geschichte derselben, als ihre Doctrin, die zugleich interessant und wichtig ist. Saint-Simon ist in allem, was er redet und schreibt, mehr anziehend als belehrend, mehr zum Vorwärtsarbeiten anregend, als selbst begründend. Er sah auf dem tieferen Boden seiner Zeit jenen furchtbaren Gegensaz von Bourgeoisie und Peuple oder von Besizern und Arbeitern; er fühlte, daß der Widerspruch zwischen beiden auf dem Princip der Egalität beruhte, und sagte den Kampf derselben vorher; aber er kam nicht so weit, weder ein industrielles System, noch eine auf festem Dogma ruhende Religion zu begründen. Das einzige Glied, was bei ihm Religion und Industrie verbindet, ist die allgemeine Lehre von der Liebe; aber grade das Gegentheil derselben war der Charakter seiner Zeit und ihrer Elemente. So bedurfte jene ganze Anschauung, die wir ihn in seinen Hauptwerken entwickeln sehen, innerlich noch des systematischen Ordnens durch feste Bestimmung der Gränzen und der innern Gestalt der socialen Aufgabe, äußerlich aber eines entschiedenen Hervortretens jener beiden Elemente, der besigenden und arbeitenden Classe, deren Versöhnung durch sie erreicht werden sollte, um sich selber für eine socialistische Wissenschaft ausgeben, und im wirklichen Leben eine praktische Bedeutung erlangen zu können. Das erste ward ihr durch die beiden entschiedensten und bedeutendsten Schüler Saint-Simons, Bazard und Enfantin, das letztere durch die Julirevolution. Nach ihr erreichte der Saint-Simonismus seinen Höhepunkt, und sich überschlagend, brach er alsbald zusammen, um einer anderen Theorie Plaß zu machen. Demnach stellt sich uns die Geschichte desselben in den Epochen dar, die wir nun einzeln verfolgen wollen.

Erste Epoche. Bis zur Julirevolution*).

Die Aussichten, die Saint-Simon seinen Schülern auf seis nem Sterbebette hinterließ, waren keineswegs glänzend zu nennen. Die Theilnahme an seiner Tendenz war weder allgemein, noch auch sehr lebendig, wenn man den kleinen Kreis seiner Schüler ausnimmt. Und auch diesen hatte Saint-Simon einen noch so unfertigen Stoff hinterlassen, daß ihr eigentliches Interesse an demselben erst von der Arbeit und Mühe abhängen mußte, die sie darauf verwenden würden. Das öffentliche Organ der neuen Lehre,,,Le Producteur**)," war allerdings gegründet, und der nächste Erbe Saint-Simons, Olinde Rodrigues, wandte seine besten Kräfte auf, ihm einen weiten Kreis und begeisterte Anhänger zu verschaffen. Die übrigen Schüler verließen ihn nicht, aber sie hatten neben dem socialen Berufe noch einen anderen Zweck, das thätige Eingreifen in das eigentlich politische Leben, das damals in stets entschiedener Action und Reaction alle Hoffnungen und alle Arbeit in Anspruch nahm. Wollte der Producteur daher irgendwie eine Stellung einnehmen, so mußte er seine Ideen an die politischen Kämpfe jener Zeit selber anschließen; damit aber verlor er die eigentliche Bedeutung seines Lebens; und mit ihr stirbt jedes Dasciende allmählig ab. So erging es auch diesem Blatt; die Mitarbeiter machten es bald, statt es als Organ des Saint-Simonismus aufrecht zu halten, zum Organ ihrer individuellen Meinungen über individuelle Fragen; es verlor feinen innern Mittelpunkt und damit seine Leser; aus einer Wochenschrift ward es Monatsschrift, und nach zwei Jahren, die ohne eigentliches Resultat blieben, hörte es auf zu erscheinen.

Jezt schien Saint-Simon und seine ganze Theorie wirklich untergegangen zu sein; ja selbst für ein neues Aufblühen der Lehre wäre es schwer gewesen, einen Plaz zu finden im Drange

*) Wir folgen in der Darstellung der Geschichte des Saint-Simoniemus Louis Reybaud, der sie mit eben so viel Geschmack als Kenntniß der Verhält nisse behandelt hat. Indessen ist seine Schilderung der Persönlichkeiten und des äußeren Ganges bei weitem vorzüglicher zu nennen, als die Darstellung der eigentlichen Doctrin. Was die Erposition, von der unten die Rede sein wird, insbesondere betrifft, so glauben wir als die leßte Entwicklung derselben unbedingt den schon oben angeführten Aufsaß von Warnkönig bezeichnen zu können.

**) Der Titel des Blattes ist folgender: Le Producteur, journal philosophique de l'industrie, de la science et des beaux arts. Fünf Bände, mit dem Motto der Opinions" von Saint-Simon : Das goldne Alter, das eine blinde Tradition bisher in die Vergangenheit versezt hat, liegt vor uns.“

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der damaligen Begebenheiten. So glaubte auch jene Zeit, und man erklärte sie für eine abgeschiedene Lehre, die innerlich unvollendet, erfolglos vorübergegangen sei.,, Aber es geht dem in die Welt hinausgesandten Wort wie dem Saamen, den der Wind von einer Zone zur anderen trägt," sagt sehr schön Louis Reybaud,,, er fliegt hin über die Meere, und erkeimt fern von dem Baume, der ihn erzeugt hat." Der Producteur hatte einen kleinen aber gewählten Kreis von Lesern gefunden; er hatte kühne Gedanken über das Wesen der industriellen Freiheit gewagt, dem ftarren Zwang der damaligen Regierung gegenüber; die jungen begeisterten Männer hatten muthig die tiefste Wunde der Zeit berührt, in der sie lebten, und den Industrialismus auf manchem. Punkte mit dem Liberalismus versöhnt. Was hier behauptet ward, war neu und kühn, und hatte damit das größte Verdienst, das eine Ansicht in Frankreich haben kann; zugleich aber lag ein Kern tiefer Wahrheiten in dem noch gestaltlosen Chaos, und wen die Kühnheit angeregt hatte, den fesselte die innere Bedeutung der gewagten Säße. So war die Thätigkeit des Producteur nicht eine verlorne zu nennen. Er gab die Gelegenheit zum Bekanntwerden gleichgesinnter Männer; man schrieb sich, man besuchte sich, und theilte Resultate und Zweifel; die Lehre SaintSimons fand einen neuen Boden, auf dem sie Wurzel schlug, und während man sie für spurlos aus der Reihe der Theoreme verschwunden erachtete, bereitete sie sich zu einem nur entschiede neren und glänzenderen Auftreten in der Stille vor.

Allgemeine Wahrheiten bedürfen mehr, als ihrer eignen Kraft, um für das Leben der Menschheit zu ihrer ganzen Geltung zu gelangen. Sie wollen einen Apostel, einen Geist, der sie in ihrer Tiefe zu erfassen, und bis zu ihrer leßten Gränze in den Einzelheiten zu begleiten vermag. Dennoch darf man sagen, daß sie nicht von dem Auftreten desselben abhängig sind; fondern find sie nur wirklich da als wahres Eigenthum einer Zeit, fo finden sie ihn, oder schaffen ihn selber. Der Saint-Simonismus ward zwar von Einigen geglaubt, aber von keinem ausgebildet; es fehlte ihm noch diese Bestätigung seines Berufs, und der wahre Saint-Simonist mußte gefunden werden, um aus vielen Meinungen das System Einer Schule, aus unklaren Hoffnungen und Plänen einen wirklichen Versuch hervorzurufen.

Dieser Mann trat auf, als scheinbar für die neue Lehre alle Hoffnung verloren war; ihm zur Seite ein anderer, nicht weniger

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