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wiedergeben. Er verheirathete sich 1801 mit einem Fräulein von Champgrand. ,,Ich habe die Ehe benugt als ein Mittel um die Gelehrten zu studiren, was mir für die Ausführung meiner Unternehmung nothwendig schien. Denn um die Organisation des wissenschaftlichen Systems zu verbessern, ist es nicht genug, den Standpunkt des menschlichen Wissens zu kennen; man muß gleichfalls die Wirkung erfassen, die die Ausbildung in der Wissenschaft auf die hervorbringt, die sich ihr hingeben; man muß den Einfluß schäzen könenn, den diese Beschäftigung auf ihre Leidenschaften, ihren Geist, das Ganze ihrer Moral und ihrer einzelnen Theile hervorbringt," sagt er. Die Zeit seiner Ehe war zugleich die Zeit, in der er sich allen Vergnügungen hingab. Bälle, Gesellschaften, offne Tafel füllten die Tage aus, die dieser kurze Zeitraum umfaßt. Zwölf Monate lang machte er sein Haus zum Mittelpunkt aller Vergnügungen, und diese mangeln in Paris keinem, der sie zu suchen Lust, und ihre Kosten zu ertragen das Vermögen hat. Was er in diesem, von ihm selber hervorgerufenen Strudel wollte und that, charakterisirt Louis Reybaud eben so richtig als schön.,,Ruhig in der Mitte dieses Geräusches, Andere beurtheilend ohne beurtheilt zu werden, Gastronom, Weltmann, Verschwender, aber mehr durch System als Neigung, lebte Saint-Simon in Einem Jahre funfzig Jahre; er stürzte sich in das Leben, anstatt hinein zu schreiten, um vor der Zeit die Weisheit des Greises zu erlangen; er gebrauchte und mißbrauchte Alles, um einst Alles in seine Berechnungen aufnehmen zu können; er impfte sich die Krankheiten des Jahrhunderts ein, um später ihre ganze Physiologie bestimmen zu können. Es war ein vollkommen erperimentales Leben; es von dem gewöhnlichen Gesichtspunkte aus beurtheilen zu wollen, wäre Thorheit gewesen." Daß Saint-Simon wirklich auf einem Standpunkt stand, auf dem er auch durch das ungeregeltste Leben nicht mehr verloren gehen konnte, davon zeugen seine eignen Worte.. ,,Wenn ich einen Menschen sehe, der nicht auf der Bahn der allgemeinen Wissenschaft hingestellt ist, und dennoch Spielhäuser und die Orte der Verschwendung besucht und Personen von anerkannt immoralischem Charakter nicht vermeidet, so werde ich sagen: dieser Mensch richtet sich zu Grunde; er ist nicht zur glücklichen Stunde geboren. Aber wenn dieser Mensch der Richtung der theoretischen Philosophie lebt, wenn es das Ziel seiner Untersuchungen ist, die Scheidelinie, welche die Handlungen

trennt und sie in gute und schlechte abtheilt, zu berichtigen, wenn er sich Mühe giebt, die Mittel zu finden zur Heilung der Krankheiten der menschlichen Erkenntniß, welche uns verleiten, Wege einzuschlagen, die uns vom Glücke entfernen, so werde ich sagen: dieser Mensch durchläuft die Bahn des Lasters in einer Richtung, die ihn zur höchsten Tugend führen muß." Es ist klar, daß dieser Mensch kein anderer ist als Saint-Simon selbst, und diese Anspielung müssen wir ihm schon vergeben. Allein jene Zeit, die diesem gefahrvollen Wege zur höchsten Tugend gewidmet war, schließt sich schnell ab; nach zwölf Monaten sieht er sich ge= zwungen, einzuhalten. Und jezt haben wir wohl ein Recht nach einem Resultat uns umzusehen; ja Saint-Simon muß es von sich selber fordern. Denn in diesem lezten Theil seiner erperimentalen Lebensepoche hat er sich vollständig materiell ruinirt; der Rest der Summe, die er aus seiner Verbindung mit dem Grafen von Redern gezogen, war verbraucht, seine Hoffnung auf eine passende Anstellung in der wissenschaftlichen Welt nicht realifirt, und seine ganze Zukunft hing daher von der Klarheit und dem Werthe des innerlich Erworbenen ab. Er fühlte dies, und versuchte den Reichthum seiner Erlebnisse und Bemerkungen zum ersten Male in einem gemeinschaftlichen systematischen Gesichtspunkte zusammen zu fassen. In seinem zwei und vierzigsten Jahre gab er seine erste Schrift heraus, die,,Lettres d'un habitant de Genève à ses contemporains." Sie sind zwar zu bizarr, als daß sie im wissenschaftlichen Publikum irgend eine Wirkung oder auch nur einen Kreis von Lesern hätten finden können; aber sie find es doch, wo er zum ersten Male, wenn auch nur von ferne zeigt, was ihm eigentlich unter seiner,,physico-politischen Richtung" oder seiner,, allgemeinen Wissenschaft“ vorgeschwebt hat. Es ist kein philosophisches System, kein neues Princip im Gebiet des Staatsrechts, sondern es ist nichts anderes, als die Idee, die Zustände der Gesellschaft wissenschaftlich zu erfassen, und ihre Verhältnisse nach absoluten Grundsägen zu ordnen. Noch ist alles phantastisch, bodenlos, und von der Wirklichkeit zu entfernt, um schon jezt auch nur als ein Beginn der wahren socialen Wissenschaft dazustehen; aber es ist doch der Anfang des Anfangs, die entschiedene Richtung, bestimmt gewonnen. Schon hier will er eine neue Gestaltung der menschlichen Gesellschaft, gegründet auf die drei großen Claffen der Menschen. Die erste ist

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die der Weisen, zu denen die Künstler gehören, und alle, welche liberale Ideen haben.,, Auf dem Banner der zweiten", fährt er fort,,,ist geschrieben keine Neuerung; alle Besizer, die nicht in die erste hineintreten, schließen sich an die zweite. Die dritte, die sich bei dem Worte Gleichheit versammelt, bildet die größere Masse der Menschheit *)." Diesen drei Classen sucht er nun in jenen Briefen klar zu machen, daß die Weisen zur Herrschaft be= stimmt sind und daß man daher sie in den Stand sehen müsse, sich dem ernsten Studium ohne Sorgen zu überlassen. Dazu schlägt er, gleich im Beginn des ersten Briefes, ein eigenthümliches Mittel vor. Eröffnet eine Subscription vor dem Grabe Newtons; unterschreibt alle ohne Ausnahme die Summe, welche ihr wollt. Jeder Subscribent ernenne drei Mathematiker, drei Physiker, drei Chemiker, drei Physiologen, drei Literaten, drei Maler, drei Mufiker. Erneuert alle Jahr die Subscription sowohl wie die Ernennung. Theilt den Ertrag der Unterschriften unter den drei Mathematikern, den drei Physikern 2c., welche die meisten Stimmen erhalten haben. Die Männer von Genie werden alsdann einer Belohnung genießen, die ihrer und eurer würdig ist. -Ihr aber werdet durch diese Maaßregel denen, die für den Fortschritt eurer Erkenntniß arbeiten, Anführer geben." Das ist der eigentliche Grundgedanke dieser ersten Schrift, der er die Formel für die Organisation der Gesellschaft hinzufügt:,,die geistige Gewalt in den Händen der Weisen; die zeitliche Gewalt in den Händen der Besizer; die Gewalt, diejenigen zu ernennen, die die Obliegenheiten der großen Leiter der Menschheit zu erfüllen berufen sind, in den Händen Aller; als Belohnung den Regierenden die Achtung; aber dieses Resultat wäre doch zu ärmlich, um eines irgendwie bedeutenden Mannes würdig zu erscheinen. Am Ende des zweiten Briefes springt er daher plößlich über jene, am Ende doch untergeordneten Fragen und Verhältnisse hinweg, und reißt in einem eignen Abschnitt, der ohne Zusammenhang dasteht, unerwartet den Schleier vor den Gestalten hinweg, die sich tief in seinem Innern bewegen. Er hebt an:,,Ist es eine Erscheinung? Ist es nur ein Traum? Ich weiß es nicht; aber ich bin gewiß die Gefühle erfahren zu haben, von denen ich euch Rechenschaft ablegen will." Und jezt fährt er fort mit der Aufzeichnung einer

*) Lettres d'un habitant de Genève p. 22. (Oeuvres de St.-S. par 0. Rodrigues. 1841.

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Weltordnung, die ihm in der Nacht offenbart worden, und deren Grundgedanken in den Anfangsworten enthalten ist. Eine Stimme redet:,,Rom wird auf den Anspruch verzichten die Hauptstadt meiner Kirche zu sein; der Pabst, die Cardinäle, die Bischöfe, die Priester werden aufhören in meinem Namen zu reden. Alle, die neue Religionen eingeführt haben, hatten die Macht dazu von mir erhalten, aber sie haben die Anweisungen, die ich ihnen gegeben, nicht gut verstanden. Vernimm, daß ich Newton zu meiner Seite gesezt und daß ich ihm die Leitung der Erkenntniß und den Befehl über die Bewohner aller Planeten anvertraut habe. Er wird die Menschheit in vier Abtheilungen theilen, die sich die Englische, Französische, Deutsche und Italienische nennen werden. Jeder Mensch wird für den höchsten Rath Newtons und für den seiner Abtheilung unterschreiben. Die Frauen werden zugelassen werden zur Unterschrift; sie werden selbst ernannt werden können*)." In diesem Tone geht die Rede der Stimme fort. Man sieht, troß der mancherlei Thorheiten, die er nicht verdeckt, daß hier mit unmittelbarer Kraft sich plößlich seinem Bewußtsein eine ganz neue Welt erschließt; wohl sind noch alle die Gestalten, die sie enthält, unförmlich, und ihre Ordnungen weder klar noch tief, aber er hat für seine Studien jezt den höchften Ausgangspunkt gefunden, und die vage Idee der science generale, die er unaufhörlich und selbst in das Maaßlose hinein. verfolgt, hat hier ihre lezte Aufgabe zum erstenmale erreicht, wenn auch nicht gelöst. Er steht vor der Idee einer neuen Religion, die die Ordnerin des Weltlebens sein soll; in ihr finden sich alle Spuren seiner späteren Ansicht und selbst der seiner Schule im Keime wieder, und selbst der erste Gedanke einer Emancipation der Frauen, der später eins der Hauptthemata seiner Nachfolger ward, ist in ihr enthalten; es ist dies um so merkwürdiger, als in allen folgenden Schriften Saint-Simons diese Berufung der Frauen nicht wieder vorkommt **). Jene Religion aber, die zugleich die lezte Wahrheit der socialen Verhältnisse enthält, ist ihm gradezu eine offenbarte, der er zum Propheten bestimmt ward. Gott ist es, ruft er im Anfange des dritten Briefes

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*) Lettres etc. p. 48-62.

** Olinde Rodrigues hat deshalb auch grade diese Stelle in seiner Ausgabe hervorgehoben; er bedurfte in den Schriften seines Lehrers einer Bestätigung seiner Theorie von der Emancipation der Frauen, und diese läßt sich nur hier finden.

aus, der zu mir geredet hat. Hätte ein Mensch eine Religion aufstellen können, die erhabener ist als alle, die bestanden haben?" Damit ist die Zeit des suchenden Umherfahrens im äuße ren Leben vorbei, und das Ziel in der Entwicklung des inneren. ihm gegeben. Seine zweite Lebensepoche hat sich ihm vollendet, und fein Beruf ist von jest an ihm ein unabweisbarer, ja ein göttlich bestimmter. Zugleich aber tritt die Veränderung in seinen äußeren Verhältnissen ein, die ihm die lezte und bitterste Erfahrung in der Gesellschaft, die der vollkommensten Armuth und des Vergessenseins bereitete. Diese härteste Probe seines Glaubens war noch übrig; sie bildet den äußern Charakter seiner dritten Lebensepoche.

Jezt aber, wo Saint-Simon wirklich der höheren socialen Wissenschaft sich entschieden hingiebt, und nach einem Plaz in derselben strebt, den er theuer genug erkauft hat, müssen wir zum richtigen Verständniß dieses jedenfalls höchst merkwürdigen Mannes eine ihm eigenthümliche Bedeutung seiner inneren Entwicklung herausheben. Saint-Simon ist eben dadurch vorzüglich beachtungswerth, daß sich in ihm die Hauptfragen seiner Zeit nicht bloß im Allgemeinen wiederspiegeln, sondern selbst in ihren einzelnen Stufen eine eigne und bestimmte Gestalt in seiner Anschauung hervorrufen. Er unterscheidet sich dadurch wesentlich von Fourier, der von vorne herein sein absolutes Princip sucht und aufstellt, unbekümmert um das, was außer ihm sich bewegt, sein System aufbaut, und von ihm aus tadelnd und drohend das Gegenwärtige beschaut. Saint-Simon dagegen, bekannt und bewandert in allen Gestaltungen der gesellschaftlichen Welt, trägt unbewußt den Typus seiner Zeit mit sich, und wir finden genau den Punkt, den jene erreicht hat, in der Bildung ihres ersten Socialisten mit allen ihren Zweifeln, Unklarheiten und fernen. Hoffnungen wieder. Auch in dieser Beziehung sind jene Genfer Briefe eine für die Geschichte nicht ganz bedeutungslose Erscheinung. Wir haben in dem ersten Theile gezeigt, wie nach der Schreckensherrschaft und dem sie befestigenden Princip der abstracten Gleichheit der Besiz wieder in seine Rechte einzutreten sucht, und allmählig die Scheidung von Besizenden und Nichtbesitzenden. die Stellung einnimmt, von der aus sie die ganze Geschichte der Gesellschaft des französischen Volkes beherrschen wird. Aber eben in den Jahren, die diese zweite Lebensepoche des ersten Socialisten umfaßt, schlummert sie noch unentschieden auf dem Grunde

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