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fühlt unmuthig seine Abhängigkeit von seiner niederen Stellung; er will Erwerb für das was er thut, und Geltung für das was er ist. In ihm ist der Nichtbesizer sowohl der alten als der nicht germanischen Welt in den Seiten zusammengefaßt, die sich nicht widersprechen, ein neuer Beweis von dem unendlichen Reichthum der germanischen Völkerbildungen.

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So muß denn Inhalt und Bedeutung dieser neuen Erscheinung in der neuen Geschichte gefunden werden. Aber auch diese ersten Umrisse der Idee des germanisch- christlichen Proletariats reichen nicht bis an die Gränze der Fragen, die uns hier entstehen. Denn weder in der Idee des Germanismus an sich, noch in der des Christenthums liegt ganz das, was wir suchen. Werfen wir einen Blick auf die zwei Jahrtausende, in denen beide auf dem Kampfplaß der Geschichte erschienen sind, so findet sich jene Klasse in ihrer heutigen Gestalt nirgends vor, mögen wir die vorchriftliche Zeit, oder die deutsche Periode, oder die frühere französische betrachten. Das alte deutsche Reich kennt sie nicht, das spätere Mittelalter eben so wenig; vielleicht dürften die Bauernkriege und die englische Revolution manche Vergleichungspunkte abgeben, allein wenn auch hier schon die ersten Spuren der heutigen Ideen zum Grunde liegen mögen, so find sie dennoch so tief unter den Bewegungen der bloßen Rache, des Religionshasses und der politischen Absichten vergraben, daß sie schwer zu erkennen, viel weniger aber zu einem bewußten Ziel für die streitenden Partheien geworden sind. Es ist klar auf den ersten Blick, daß es bis zur Gränze der neuesten Geschichte, ja bis zur Revolution kein eigentliches Proletariat giebt. Wo aber ist der innere Grund, daß es, durch jene Zeit in Frankreich zum Bewußtsein gelangt, sich als das vielleicht bedenklichste Resultat derselben über die Völker Europa's verbreitet hat?

Keine Revolution ist eigentlich erzeugend für das Leben einer Zeit. Sie kann die Fesseln sprengen, die lang vorbereitete Keime in ewiger Kindheit zurückhalten möchten, aber sie selbst vermag es nicht, wahrhaft neue zu schaffen. Erstand daher die Bedeutung des Proletariats auf den Trümmern des altfranzöfifchen Staats, so muß dennoch der tiefere Grund desselben höher hinaufreichen; und hat es sich ausgebreitet unter den übrigen Völkern, so muß ein gleicher Grund in ihnen unmerklich gewirkt, sie müssen alle auf diesem Punkt eine gemeinsame Geschichte haben.

Noch steht unsre Geschichtschreibung überhaupt auf derselben

Stufe mit dem, sich nur als entgegengeseßt betrachtenden Volksbewußtsein; sie enthält den Kampf der Staaten und Nationen. Die Zeit ist nicht fern, wo wir beginnen werden, nach dem gemeinsamen Leben der germanischen Welt mitten unter Kriegen und unversöhntem Haß zu suchen. Wir aber haben, ein gemeins sames germanisches Element betrachtend, schon hier für unser Gebiet diese Aufgabe zu vollziehen. Denn ist dasselbe allen Völkern durch Ein Ereigniß zum Bewußtsein gekommen, so muß sein Dasein einen Grund haben, der allen zugleich eigen ist. Das aber ist hier schon nicht mehr die Revolution; sie gehört Frankreich. Nicht sie verbindet es mit seinen Nachbaren; erst das was außer oder über derselben in der Geschichte sich vollzieht, ist das wahrhaft Gemeinsame; und dieses allein kann uns, wenn es erkannt ist, dies gemeinsame Resultat der neuesten Zeit erflären. Die gegenwärtige Arbeit des Geistes in der europäis schen Welt zeichnet sich neben manchem andern, wesentlich dadurch von der früheren aus, daß man das Bewußtsein gewonnen hat, wie eine ganze Reihe von Entwickelungen der Menschheit als selbstständige angesehen werden müssen; das ist ein Beweis ihrer eignen erwachenden Kraft, wie der steigenden Höhe des Standpunkts, von dem aus sich der Geist selbst beschaut. Die unmittelbare Folge davon aber ist der Gedanke, jene Entwicklungen zugleich als selbstständige Geschichten zu erfassen, und ihr allmählig aus dem ununterschiedenen Chaos sich herauswindendes, eignes Leben, das fast spurlos unter der Maffe der allgemeinen Weltgeschichte begraben lag, wie auch in eigenem Bilde zu entfalten,

Von allen jenen einzelnen Geschichten reicht nun Eine unmittelbar in den Kreis von Erscheinungen herüber, die wir verfolgen. Guizot hat es bekanntlich unternommen, eine Geschichte der Civilisation zu schreiben. Der Gedanke ist großartig, und wohl der Beachtung werth. Wenn man aber aus dem Allgemeinen ein Besonderes heraushebt, dem man als einem Selbstständigen in seinen oft tief verborgenen Spuren durch Vergangenheit und Gegenwart nachforscht, so ist es vor allem durchaus nothwendig, dem Begriffe selbst, den ein soches Wort bezeichnet, auf das schärffte seine Gränzen anzuweisen. Guizot begnügt sich zu sagen, daß er die Civilisation in dem Sinne auffaffe, wie man sie gewöhnlich anzusehen pflege. Damit ist denn wenig gewonnen.

Und dennoch ist es gegenwärtig wohl an der Zeit, über

die Idee der Civilisation und ihren wahren Inhalt einmal einig zu werden. Jenes Wort wird so oft gebraucht, es füllt so manche Lücken, glücklich oder unglücklich, aus, man versteckt so manche Unklarheit dahinter, daß es in der That nothwendig ist, bestimmt mit einem Begriffe derselben aufzutreten, wenn auch nicht in der Hoffnung die Sache zu beenden, so doch in der Erwartung den Streit darüber zu beginnen. Und das ist für uns nun eine unerläßliche Aufgabe geworden. Denn eben das Wesen des germanischen Proletariats kann auf keine Weise ganz verstanden werden, wenn man sich nicht über das, was die Civilisation ist, eine feste Anficht erworben hat.

Man wird den Begriff der Civilisation nicht für erfüllt halten, wenn man etwa Eine Kunst, oder auch alle Künste als Civilisation ansehen wollte; eben so wenig, wenn man ihnen die Wissenschaften hinzufügt. Die Civilisation ist weiter. Man wird alles, was wir die Bildung nennen, hineinziehen müssen. Auch das ist nicht genug. Gäbe es nur Einzelne, die wahrhaft gebildet wären, während die Masse des Volkes in Dummheit versunken ist, so würden wir sagen, daß die Civilisation noch manchen Schritt in einem solchen Lande zu thun habe. Aber selbst bei der Idee der Bildung kann man nicht stehen bleiben. Wäre selbst ein Volk absolut gebildet, aber einer vollkommen despotischen und tyrannischen Herrschaft unterworfen, so wäre man auch hier unzweifelhaft des Urtheils gewiß, daß die Civilisation noch fern von ihrem wahren Höhepunkt sei. Doch auch das ist nicht ausreichend. Würde man ein Volk civilisirt nennen, das wie die Deutschen im vorigen Jahrhundert, einen eignen Stand hat, der rechtlich anderen untergeordnet ist, oder Classen, die absolut tiefer stehen in der öffentlichen Achtung, wie andre, ohne daß sie im Stande wären, sich aus ihrer der Menschheit unwürdigen Stellung zu befreien, wie früher die Leibeigenen? Nimmermehr! Zur Idee der Civilisation gehört nicht blos Bildung, sondern zugleich staatsrechtliche und persönliche Freiheit; beides wiederum nicht als das ausschließliche Gut Einzelner, fondern als ein factisch gemeinsames für Alle.

So löst sich der Begriff der Civilisation in seinen wesentlich zweifachen Inhalt auf, durch denselben zugleich die Form seiner Geschichte bestimmend. Zuerst gelangen wir zur Idee der ihrem Wesen nach selbstbedingten und allgemeinen Güter; dann aber zu dem wirklichen Verhalten der Einzelnen im Staate zu

denselben, der Gestalt, die sie in ihrer Vertheilung ange= nommen haben, oder der Gestalt der menschlichen Gesellschaft. Erst hier entsteht die Möglichkeit einer Geschichte der Civilisation; ihr Inhalt ist kein andrer, als auf der einen Seite die Entwicklung jener Besigthümer an sich, auf der andern aber der Gang des geistigen Fortschritts, durch welchen dieselben auf den Einzelnen übergehen, ihn erheben und bessern, und aus der Rohheit und dem Elend der Völker ein freudiges und starkes Leben erwecken, an dem jeder, eben weil er ein Mensch ist, Theil zu nehmen berufen sein soll.

Hier ist nun wohl der Ort, auf eine Reihe von Erscheinungen in unsrer Gegenwart hinzuweisen, damit man von vorne herein zugestehe, daß jene Gedanken zwar Abstractionen, aber Abstractionen aus der uns alle unmittelbar umgebenden Wirklichykeit sind. Man fasse jene Idee der ihrem Wesen nach allgemeinen Güter in ihrer weitesten Bedeutung, und, nun sage man sich, als . was man, um ein Beispiel zu gebrauchen, die thatsächliche Erscheinung anerkennen will, daß die Volkserziehung täglich mehr als eine Hauptaufgabe unsrer Zeit gefordert wird? Was treibt uns, die Ausstellung der Kunstschäße über alle Städte unsrer Länder zu verbreiten? Was ist es, was täglich die privilegirte bürgerliche Ehre des Adels mehr und mehr in gleichen Rang mit der der Nichtadligen stellt? Was enthält jenes Ringen nach einer ständischen Verfassung? Was ist, seinem Wesen nach, das Bedürfniß der allgemeinen Militairpflicht, die bald den Namen des gemeinsamen Waffenrechts führen wird, weil sie ihn verdient? Doch es ist weder nöthig alle Fragen hier aufzustellen, die der Feder zuströmen, noch auch sie zu beantworten. Aber es muß klar sein, daß hier der Charakter grade unsrer Gegenwart verborgen liegt. Wir haben in den früheren Jahrzehnden jene allgemeinen Güter mit raschem Schwunge zu einer Höhe erhoben, die unsre Väter nicht kannten. Kunst, Wissenschaft, Literatur, die Idee des Staats, die Bedürfnisse der Gesellschaft sind unser; aber es giebt noch eroterische und esoterische Kreise. Die sind es, gegen die der Geist der Zeit arbeitet. Man wirft uns vor, daß wir nicht wahrhaft productiv sind, aber man vergißt das zu schäzen was geschieht, über dem was man fordert. Das ist ungerecht; doch bedarf es nur eines Blickes auf die heutigen Bewegungen, um ihre Hauptrichtung zu würdigen.

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Aber auch so haben wir zwar den Charakter der allgemeinen

Bewegung unserer Zeit gefunden, jedoch nicht das, was sie als eine eigne hinstellt. Denn jene Bewegung gehört dem Wesen der ganzen germanischen Welt an; so weit ihre Geschichte reicht, trägt sie wesentlich keinen andern Charakter. In den Einzelnen kommt die Höhe des Wissens, der Bildung, der Kunst, der Politik zur Erscheinung; von ihm aus bricht sie sich Bahn, und ergießt sich langsam aber sicher in das ganze Volk, ja über seine Gränzen hinaus. Das ist der Gang, den der Reichthum aller Art in Europa nimmt; aber durch alle Zeiten folgte er demselben Gefeße. Die innere Arbeit der Geschichte ist immer die Verwirklichung der Civilisation durch das Voranschreiten des Einen und das Nachfolgen der Anderen gewesen; dennoch fordern wir den bestimmten Charakter unserer Zeit in diesem gemeinsamen Leben des Geistes, denn auf ihm muß die allen gemeinsame Erscheinung beruhen. Wie sollen wir zu ihm gelangen?

Von dem bewußtlosen Beherrschtwerden durch absolute Geseße zu dem erkennenden Vollziehen derselben ist ein unendlicher Fortschritt; ja in Beziehung auf jene giebt es keinen anderen für den menschlichen Geist. Ist unsere Zeit daher eine wahrhaft eigenthümliche, so muß sie es durch dieses Bewußtsein über die Geseze ihres eignen Lebens sein. Hier ist kein zweites möglich. Und will eine eigenthümliche Erscheinung, welcher Art sie sei, wahrhaft nur unserer Zeit angehören, so muß sie als das Resultat eben dieses Bewußtseins sich erkennen lassen. Das aber fordert, daß sich auch das heutige Proletariat seinem innersten Wesen und seiner ganzen Bedeutung nach aus ihm ergebe. Es mag fremdartig scheinen, daß wir zwei so fernstehende Begriffe mit einander verbinden; dennoch giebt es keinen zweiten Weg, das Verständniß des lezteren ganz zu erfassen.

Denn indem wir den Gang der Civilisation in seinen Inhalt auflösen, und dieses ewig neue Entstehen großer Gedanken, großer Persönlichkeiten, großer Reichthümer, ihre anfängliche Beschränkung auf engere Kreise, dann aber die unwiderstehliche Gewalt, mit der sie herausbrechen aus denselben und zum gemeinsamen Besize aller werden, einzeln an uns vorübergehen laffen, erhebt sich uns allmählig die Frage, ob denn diese Verallgemeinerung der höchsten Güter nichts anderes ist, als eine zufällige Erscheinung, ein Ergebniß, das auf der Willkühr des Mitleidens, der Gutmüthigkeit oder des Zwanges beruht, und mithin auch nicht sein könnte?

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