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der Persönlichkeit des Menschen. Wer die dunkle Gestalt dieser Idee in den Philosophen des vorigen Jahrhunderts verstanden, dem wird es klar sein, daß sie es ist, um die es sich handelt. Und diese Idee nun, die edelste und höchste, die der Mensch zu fassen vermag, kann sie zu einem solchen Zustand führen, wie der der Gegenwart Frankreichs? Kann sie noch wahr sein, wenn ihre nothwendige Consequenz eine solche ist? Es ist umsonst, diese Frage von der Hand zu weisen. Scheidet ihr sie aus dem Leben der materiellen Welt, so wird sie in dem der philosophischen wieder erstehen, und umgekehrt. Sie ist da, und damit will sie ihre Lösung. Oder sollen wir das Volk anklagen, das sie mißverstanden und mißbraucht hat, ein ernstes und warnendes Beispiel den anderen Nationen? Wer giebt uns Aufschluß über diese Räthsel?

Wenn nun so die gewaltigen Kämpfe und Widersprüche, indem sie vor uns hintreten, in unserm eignen innern Leben mächtig werden, und uns selbst aus der Ruhe aufrütteln, in der wir unsere Tagesarbeit friedlich zu vollenden trachten, so überkommt. es uns wohl, ein solches Volk rasch zu verurtheilen, und es, weil es uns nicht gleich ist, unter uns zu stellen. Wir möchten verdammen, was geschieht, und den anklagen, der sich des Geschehens nicht zu erwehren vermochte. Von dem sichern Besize unsrer Ueberzeugungen aus fallen wir alsdann über den her, der sie nicht besigt, und der Kampf selbst gegen ihn gilt uns als die stärkste Bewahrheitung dessen, was wir als wahr sehen. Oder auch es bemächtigt sich unsrer eine gewisse Wehmuth, und wir verzweifeln an der Zukunft, die wir mit unserm Denken nicht auflösen, mit unsrer Arbeit nicht gestalten können. Indem wir sehen, daß der Kern des Lebens zersplittert ist, und umsonst darnach ringt, sich in sich selber wieder zu erfassen, wird uns das eigne Glück und die eigne Kraft unsers Geistes klar, und wir möchten fragen, warum sie denn nicht auch ihnen geworden und geblie ben?

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Beides aber, der Zorn wie der Schmerz, haben Unrecht, wenn sie das Medium sein wollen, durch welches das Geschehende sich in unserm Innern abspiegeln soll. Denn sie gehen von uns aus, und kehren zu uns zurück, das blos Subjective vergleichend und messend. Für das wahre Erkennen der Geschichte giebt es einen andern Weg, auf dem allein wir uns über das scheinbar Zufällige

erheben können. Wen es einmal treibt, über das blos gläubige Gottesbewußtsein hinauszugehen, und die Gründe der Dinge mit eignem Denken zu erkennen, dem ergiebt sich der einfache Saß, daß in der Idee der Persönlichkeit selber ein Punkt verborgen liegen muß, der in sich nicht blos eine negative und zerstörende, sondern zugleich eine schaffende und ordnende Macht trägt. Denn hat fie die Geschichte bis dahin geleitet, und alle die Widersprüche geweckt, in denen sich die Gegenwart Frankreichs gefangen sieht, so muß in ihr auch der endliche Aufschluß über die Zweifel liegen, die sie hervorruft; nur vernichtend ist kein Princip.

Aber die Art und Weise, wie diese Wahrheit zur Erscheinung kommt, ist allerdings eine verschiedene. Beachtet man diese Verschiedenheit genau, so enthält sie nichts geringeres, als die Volksthümlichkeiten der Nationen innerhalb der gemeinsamen Bestimmung, die ihnen durch gemeinsamen Ursprung geworden ist. Die ganze germanische Welt hat Eine Aufgabe; aber jedes Volk verfolgt sie auf seine Weise. Es liegt uns zu fern, Vergleichungen aufzustellen; fragen wir aber nach der des französischen Geistes, so wird die bisherige Geschichte wie die Gegenwart den schon von uns aufgestellten Saz bethätigen, daß er bestimmt ist, mit rascher und glänzender That nach der Verwirklichung seiner Ideen zu suchen, ehe er dieselben in dem Kreise seines Gedankenlebens wahrhaft vollzogen hat. Es soll derselbe allen Reichthum und alle Armuth der blos äußeren Handlung für sich in Anspruch nehmen, damit unter den Völkern nicht blos der ruhige Gedanke und die langsame unermüdliche Arbeit, sondern auch das schnelle, nur an die Vollendung denkende Handeln seinen Vertreter habe. Und diese Volksthümlichkeit hat nun das Egalitätsprincip bis an seine äußersten Grenzen getrieben, ohne daß der Damm ernsterer Untersuchung die äußere und innere Entwicklung belehrend gehemmt hätte. Jezt steht es da vor seinem Resultat; Negation nach allen Seiten, gegen jeden Stüzpunkt von Staat, Kirche und Gesellschaft. Aber hat diese Geschichte sich vollendet? Wäre dem so, so hätte dies Volk zugleich mit seiner eigensten Bedeutung abgeschlossen; es wäre von jest an ein überflüssiges, denn jene Negation hat ihr Aeußerstes erreicht. Doch dem ist nicht so. Zwar liegt die leßte Versöhnung noch fern, aber schon ist sie nicht mehr eine unerreichbare. Die bisherige Geschichte wird uns alsdann als ein bloßer Durchgangspunkt erscheinen, und was die Vergangenheit in ihr hat leiden müssen, das wird der Segen

der Zukunft erseßen. Daß aber wirklich aus dem Chaos der heutigen Zustände, und eben durch den Weg des Versuchs selber, der dieses verschuldet, sich der Anfangspunkt einer neuen Zeit erhebt, das ist es, was wir jezt nachweisen wollen.

IX.

Der Beginn der organischen Gestalt des Egalitätsprincips in Frankreich.

Wird man es uns je zugestehen

ja wird man es uns nur erlauben zu behaupten, daß, wenn wir einmal auf dem reinen Gebiete des Princips uns halten, die ersten Spuren seines organischen Lebens eben da zu suchen sind, wo wir selber bis jezt nur den heftigsten Kampf aller Kräfte gefunden haben, in dem Socialismus, und selbst schon in dem Proletariat und seinen Ansprüchen? Dennoch ist dem nicht anders; und man wird es anerkennen, so wie man die allerdings nicht leichte Aufgabe vollzogen hat, sich durch den lastenden Eindruck der Widersprüche, die jene erzeugten, nicht beherrschen zu lassen.

Es ist eine solche Behauptung aber von der entschiedensten Wichtigkeit. Denn es handelt sich um die Frage, ob je ein an fich unabweisbares Princip mit einem andern in einen absoluten Widerspruch treten könne. Wenn je, so scheint es hier bejaht; Ordnung und Freiheit scheinen zu ewigem Kampfe bestimmt zu sein. Versöhnen sie sich nicht, wem wird man schwören wollen?

Die wahre Vereinigung des scheinbar absolut Entgegengeseßten wird nicht gefunden, so lange man nicht bis an die äußerste, endliche Entwicklung des Widerspruchs gelangt ist. Es bewährt sich dieser Saß nicht blos im Denken des Einzelnen, sondern zugleich in der Geschichte der Völker. Und grade auf dem Gebiet jener Frage tritt uns ein neuer und in jeder Weise merkwürdiger Beweis desselben entgegen.

Das äußere Bedürfniß wie der innere Drang fordern unwiderstehlich, daß die Masse des Volkes sich in eine innere Einheit erfasse. So weit die Geschichte reicht, sehen wir Familien, Gemeinden, Staaten; die Vielheit organisirt sich; sie wird zu einem Ganzen, das dem Einzelnen seine Stellung und seine Wirksamkeit bedingt. Dieses Ganze aber ist seinem innersten Wesen nach eine absolute Gestalt des Lebens der Menschheit; sein Dasein ist eine Forderung, die weder die Philosophie noch das

wirkliche Leben abweisen können oder wollen; es muß einen Staat geben; und hier ist es gleichgültig auf welchem Wege der Einzelne zu dieser Ueberzeugung gelangt. Dafeiend aber greift er in die Sphäre jeder Person hinein, und ordnet und bestimmt die Aufgabe und den Weg für die Arbeit seines Lebens; er handelt für alle, wie alle für ihn. In dieser Idee des Staates ist nicht die Persönlichkeit, sondern ihr Alleinstehen aufgehoben. Eben in dieser Einheit aller Einzelnen kann dieselbe erst ihre wahre Vollendung erreichen; und deshalb fordert und seßt jedes Volk eine solche.

Mit diesem absoluten Grundsaß wird nun die allgemeine Auffassung der Gleichheit sogleich auf ihren höchsten Punkt hinaufgetrieben. Wahrhaft gleich sind nur die, unter denen feiner ist, der den andern überhaupt bestimmen fann zu einem Wollen, das derselbe nicht ganz allein aus sich selber entstehen läßt. Dieser Saß erfaßt sich als das Gesez der Egalität zu dem Rechtsgrundsaß der absoluten Abschließung aller Einzelnen von einander und zwar nicht blos in Beziehung auf das Eigenthum, sondern gleichfalls in Staat und Familie. Erst in der absoluten Negation aller nicht eigenen Bestimmung erfüllt sich die Idee der Gleichheit; und hier erhält sie einen Namen, der zu wohl bekannt ist, um näherer Bezeichnung zu bedürfen; sie ist die „, Liberté“. Die Freiheit ist die Vereinung des Rechts jeder Gemeinheit, durch ihren Willen oder durch ihr Wesen den des Einzelnen zu bestimmen; die Gleichheit die Negation desselben dem anderen Einzelnen gegenüber. So wird die Freiheit das Recht der Persönlichkeit im Staat, die Gleichheit das Recht der Gesellschaft.

Aber eben dadurch ist es unmöglich, durch die Idee der alten Freiheit und Gleichheit zu einem organischen einheitlichen Leben der Völker zu gelangen. Denn dieses sezt nothwendig das Bestimmtwerden des Einzelnen durch einen Willen, der nicht mehr seiner ist; eben dieses ist es dagegen, was jene immer aufs neue läugnen, denn so wie sie ein solches Recht des Staats im Begriffe desselben anerkennen, heben sie ihr eignes Wesen, das Grundgesez der Bestimmungslosigkeit auf. Man werfe nicht ein, daß man auch durch sie zu einem Staat gelange. Allerdings erscheint in ihnen derselbe als ein Vertrag; durch den Gedanken der Einwilligung soll die Freiheit der Person gerettet werden, und der Gemeinwille als der Wille jedes Einzelnen dastehen.

Aber eben darum ist diese Vereinigung kein wahrer Staat, keine Erscheinung eines Begriffs, sondern ein Resultat von Verträgen, die auch nicht hätten sein können, mithin ein Ergebniß der Willkühr, ein zufälliges Ding. Der wahre absolute Staat ist aber seiner Idee nach über den einzelnen erhaben; der Einzelne muß ein Glied des Staates sein, und es ist ein klarer Widerspruch, irgend einen Vertrag einen nothwendigen nennen zu wollen. Jene organische Theilnahme der Person kann aber nicht gedacht werden ohne ein Untergeordnetsein, einen Gehorsam. Der Gehorsam ist das durch einen andern Willen bestimmte Wollen, die absolute Bedingung des Staatslebens. Ihn aber kann die Freiheit nicht anerkennen, ohne sich in jener alten Gestalt ihres Begriffs aufzuheben. Darum eben ist es unmöglich, zu einer organischen Einheit des Volkes durch sie zu gelangen; sie ist nur negativ.

Und so entsteht denn jener scheinbar unauflösliche Gegenfaz, der den Charakter des heutigen Lebens Frankreichs bildet. Auf der einen Seite das unabweisbare Bedürfniß einer innern Einheit des Volkes und seines Lebens, eines gegenseitigen Bedingtwerdens des Staates und des Einzelnen, des allgemeinen Willens und des Gehorsams des Einzelnen; auf der anderen das Streben nach einem vollendeten Sichüberlassensein, in das nichts anderes bestimmend hineingreife, nach der Freiheit, deren Wesen die Declaration des droits de l'homme so treffend bezeichnet in ihrer ganz aus dem Leben der früheren Revolution nackten Definition: ,, La liberté consiste à pouvoir faire, tout ce qui ne nuit pas à autrui." Zwischen dieser Idee des lebendigen Ganzen eines wahren Staats und der des reinen Nebeneinander des Egalitätsprincips giebt es keine Versöhnung. Eine von beiden muß in dem Kampfe unterliegen, den sie begonnen haben.

Die Entscheidung in diesem Kampfe, an dem die ganze Gegenwart Europa's Theil nimmt, ist es nun, vor der vielleicht schon die nächste Zukunft Frankreichs steht.

Der Weg aber, den es dazu einschlägt, wird durch die Volksthümlichkeit bedingt. Es ist möglich, zu der Idee des Staates entweder durch den logischen Gang des sich entwickelnden Begriffes zu kommen, oder fie in einer unmittelbaren Anschauung wieder zu finden. Doch beides ist nicht die Weise, wie Ueberzeugungen in Frankreich entstehen und geltend werden. Soll es ihm zum Bewußtsein kommen, daß zwischen seinem Egalitäts

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