Page images
PDF
EPUB

später die Despotie der Waffen, und keine Waffenherrschaft kann dauerndes Bestehen finden.

Betrachtet man von diesen unabänderlichen Gesezen aus, als Beispiel für die erste Möglichkeit, Venedig und die Geschichte mehrerer deutschen Reichsstädte, in denen das parteiische Element die Masse unterworfen und rechtlos erhalten hat, so zeigt sich in der langsamen Entnervung dieser Staatskörper die Auflösung, welche einem solchen Siege der höheren Claffe über die niedere unbedingt folgen muß. Das großartigste Beispiel der zweiten Eventualität ist ohne Zweifel die Geschichte der Staaten und Verfaffungen der alten Welt. Es ist schwer zu verkennen, wo hier der Grund aller Bewegungen derselben liegt. Die Persönlichkeit des Staats hat in ihnen seit dem Untergang des ursprünglichen Königthums ihren selbsteigenen Körper verloren, und das persönliche Wollen desselben wird bestimmt und beherrscht durch die Zahl. Der Uebergang in das Bestimmtwerden des Staatswillens nach der Zahl der Stimmenden ist für das Verhältniß des Staats zur Gesellschaft so lange ungefährlich, als die größere Zahl ohne den Staat seine gesellschaftliche Stellung frei gewinnen kann, wie in Nordamerika. So wie aber die lettere auch nur in ihren Bedingungen von der Staatsgewalt als abhängig gedacht wird, so ist es bei jeder Form der Stimmenzählung, welche den Staatswillen bilden soll, absolut unmöglich, den Uebergang der Staatsgewalt an die niederen Classen der Gesellschaft zu verhindern. Geschieht das aber, so beginnt damit zugleich die Herrschaft der Interessen der niederen Stände über die höhe ren, und alsdann werden die lezteren in der Gewißheit, daß sie in jeder anderen Staatsform sich besser befinden, mit allen Mitteln eine andere herbeizuführen wissen. Daher kam es denn in ganz nothwendiger und unvermeidlicher Weise, daß der Kampf der gesellschaftlichen Elemente in der alten Welt sich in dem Kampfe um diese Staatsgewalt concentrirte. Die Geschichte der Staatsbewegungen jener so hoch berühmten Völker ist nichts Anderes als die Geschichte ihrer Gesellschaft; sie haben keine andere als diese, seit sie Freistaaten geworden sind, und es wird jezt klar sein, was wir meinen, wenn wir sagen, daß der Freistaat die, der Gesellschaft unterworfene, in ihr aufgelöste Idee und Persönlichkeit des Staats ist. Der Untergang der Verfassung eines Freistaats, und somit auch der der alten Welt, ist mithin stets seinem Inhalte nach der Sieg einer Classe über die andere, gewonnen durch den Gewinn der Staatsgewalt; und darin liegt es denn auch, weshalb die Freistaaten während der Bewegungen, welche wir als die Geschichte ihrer Verfassungen zu bezeichnen pflegen, einen so

glänzenden und aufgeregten Lebensgenuß durchmachen, aber dennoch an denselben Bedingungen untergehen, welche ihnen diese rasche Entwicklung möglich macht, während Monarchieen sich in allem Wechsel erhalten wie der Begriff des Staates selber.

Dies sind die Grundverhältnisse zwischen Staatsgewalt und Gesellschaft in den Staaten, in welchen die Staatsgrundform die erstere nicht absolut über die Gesellschaft hinstellt. Ganz anders verhält es sich da, wo dies Leztere der Fall ist; und gerade durch diesen Inhalt ist das öffentliche Recht unserer germanischen Völker und Zeiten ein so eigenthümliches und hoch bedeutendes, daß es die Selbständigkeit des Staats in der Gesellschaft möglich gemacht und verwirklicht hat.

Die Säße, die wir jezt darlegen wollen, bedürfen eines weit tieferen Eingehens, als wir es hier zu geben vermögen. Aber wir wollen versuchen ihren Zusammenhang mit dem Obigen zu entwickeln; denn wir sprechen die innigste Ueberzeugung aus, daß auf dem, was sie betreffen in mehr als einer Beziehung die künftige von menschlichem Blicke noch erreichbare Gestalt der inneren Verhältnisse unserer Lebensordnung abhangen muß.

Mag man die Verfassungen der alten Welt mit denen der neuen vergleichen aus welchem Gesichtspunkte man will, so ergiebt sich, daß das eigentlich Unterscheidende, dasjenige, was nicht mehr als Fortbildung und andere Gestalt eines Vorhandenen, sondern als ein ganz Selbständiges in der neuen Welt erscheint, nicht in irgend einem Punkte der im engeren Sinne des Wortes sogenannten Verfassung, nicht einmal in dem Beamtenorganismus liegt. Sondern das, wodurch der Staat der germanischen Welt am Wesentlichsten ein eigenthümlicher ist, das ist das Königthum. Der eigentliche Charakter dieses Königthums liegt nicht darin, daß die höchste Staatsgewalt in den Händen eines Einzelnen ist, nicht darin, daß dieser Einzelne dem Staatsbürgerthum einen mehr oder weniger großen Antheil an dieser Gewalt einräumt, nicht darin, daß dieselbe als erbliche erscheint. Die Staaten der alten Welt waren daran untergegangen, daß die Ideen und das Recht des Staats der Freiheit der Staatsbürger gegen über keinen Plag fand, wo sie als absolut selbständige, von der Willkühr der Einzelnen unerreichbare Gewalt erscheinen konnte. Die hohe Bedeutung des Königthums ift darum die, daß in ihm eben jene absolute, unantastbare, selbständige Persönlichkeit des Staats in einer selbständigen Persönlichkeit dasteht. Wer von dem Begriff des Staates zu reden versteht, der wird erkennen, daß dieser Begriff erst durch diese Personifikation des Staats im Königthum ein innerlich abgeschlossener ist; wer die Ordnung

des Staats betrachtet, der muß eingestehen, daß das Königthum den Mittel- und Krystallisationspunkt dieses mächtigen, ohne ihn im ewigen Kampfe seiner Glieder lebenden Organismus zu bilden bestimmt ist; aber vor allen Dingen wird die hohe Bedeutung des Königthums klar, so wie man das Verhältniß desselben zum Kampfe zwischen Staat und Gesellschaft auffaßt. Und dies ist der Punkt, wo wir unsre Aufgabe finden.

In jedem Volke und in jeder Form der Gesellschaft lebt eine fast immer sehr deutliche Vorstellung von den Wesen des Staats, von dem sie be= herrscht werden. Wie der Staat jedem Einzelnen umgiebt und die ganze Entwicklung seines äußeren Lebens begleitet und zum Theil sogar bildet, so prägt sich auch der Auffassungsweise eines Volkes jene Vorstellung von seinem Staate, seinem Rechte und seiner Gewalt ein, und wird jedem Mitgliede desselben in jedem Augenblicke gegenwärtig, wo es sich um das öffentliche Leben handelt. So wenig aber wie der Staat selber durch die Einzelnen gemacht ist, so wenig läßt sich jene Auffassung vom Staate in einem Volke machen und formen. Sie ist da, sie lebt und bewegt sich in ihm und mit ihm als seine unmittelbare und untrennbare Mitgift, und Gutes und Schlimmes wird ihm aus seiner Hand.

Was auf diese Weise vom Staate im Allgemeinen gilt, das gilt auch von der besonderen Gestalt desselben, die wir im Königthume begründet sehen. Eine der entscheidendsten Thatsachen für das Leben der germanischen Völker aller Zeiten ist die, daß kein Volk die höchste Staatsgewalt in anderer Weise sich gedacht oder dieselbe besessen hat, als in dem Königthum.

Wenden wir von dieser Thatsache den Blick zurück auf dasjenige, was øben über die Bewegungen der Gesellschaft gesagt ist, so ergiebt sich ein zweifaches Resultat. Das erste ist negativ. Der Kampf der Classen und Stände in der Gesellschaft der germanischen Völker hat niemals die höchste Staatsgewalt auf eine dieser Classen und Stände übertragen wollen und können; durch das Königthum ist absolut jede Form der Stimmzählung in der höchsten Staatsgewalt ausgeschlossen gewesen, und dadurch ist eine absolute Unterwerfung der einen Classe unter die andere, eben weil das Königthum und in ihm der selbständige Staat die allein absolute Gewalt ist, unmöglich geworden. Das Königthum ist die Unmöglichkeit einer absolut starren Gestalt der Gesellschaft. Das zweite Resultat ist positiv. In dem Königthum ist diejenige Macht vertreten und selbständig geworden, welche allein fähig ist, ja welche ihrer Natur nach nothwendig gezwungen wird, in sich die Intereffen aller Stände und Claffen der Gesellschaft zu

-

sammenzufassen, oder welche ihrer Natur nach kein besonderes Interesse hat, sondern welche in dem Maße mächtiger und glücklicher ist, je kräftiger und je harmonischer sich das innere Leben eines Volkes selber gestaltet. Fast man dies zusammen, so kann man sagen, daß erst durch das Königthum der Staat seine Selbständigkeit außerhalb, über der Gesellschaft wiedergefunden hat.

Dieses ist im Allgemeinen die Stellung des Königthums in der germanischen Geschichte. Allein nicht dieses Königthum allein bildet den germanischen Staat. Es lebt in demselben zugleich ein Volk, das sein Charakter mit unabweisbarer Nothwendigkeit zur Entwicklung der einzelnen Persönlichkeit, zur Theilnahme am Staatswillen treibt. Hier entsteht nun ein langer Kampf, dessen Bewegungen wir nicht folgen. Nur die Seite desselben haben wir zu betrachten, die sich der Gesellschaft zuwendet.

Die germanischen Völker haben in der Geschichte ihrer Gesellschaft eine Reihe von Entwicklungsstufen durchgemacht, die an Reichthum der Gestaltungen unendlich über Allem steht, was die übrige Welt aufzuweisen hat. In allen diesen verschiedenen Lebensformen aber erhielt sich der Grundsaß, daß das Königthum nur mit dem Volke zusammen die wirkliche Ausübung der Staatsgewalt besize. Da nun dies Volk in die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft zerfiel, so ergab es sich nunmehr, daß die gesellschaftliche Stellung zur Bedingung dieser Theilnahme an der Ausübung der Staatsgewalt wurde. Form, Ordnung und Maß dieser Theils nahme wollen wir hier kurz als die Verfassung des Staats bezeichnen. So weit die Geschichte der germanischen Staaten zurückreicht, zeigt dieselbe fortwährend, daß die ganze Gestalt der Verfassung auf diesem Princip beruht hat. Es bedarf dieser Saß keines Nachweises für die einzelnen Zustånde des inneren germanischen Staatsrechts.

Daraus folgt dann, daß man die Verfassung eines europäischen Staates wesentlich durch die Verhältnisse seiner Gesellschaft erkennen wird. Es ergiebt sich ferner, daß die Geschichte dieser Gesellschaft die Grundlage der Geschichte der Verfassungen ist, und zwar, wie es die Natur der Sache in leicht verständlicher Weise fordert, so, daß die Umgestaltungen der Gesellschaft den Umgestaltungen der Verfassung voraufgehen, und daß sie, wenn sie vollendet sind, die leßtere bedingen und erzeugen.

Diese Bewegung, die dadurch entsteht, wird stets einen ganz bestimmten Verlauf nehmen, der je nach der größeren oder geringeren Lebendigkeit oder denkenden Ruhe eines Volkes mehr oder weniger deutlich auf der Oberfläche erscheint.

Da nämlich das Königthum, obwohl es als der selbständige Ausdruck der persönlichen Staatsidee wirklich dasteht und vom ganzen Volke als solcher anerkannt wird, dennoch in der Ausübung seiner Gewalt mit dem Volke zusammen handelt, so kann es kommen, daß diese Ausübung in die Hände der einen Claffe des Volkes fällt, und daß dadurch die Sache des Königthums als identificirt mit der Sache eines Theiles der Gesellschaft erscheint. Wo dieses der Fall ist, da artet der Kampf der niederen Classe gegen die höhere gewöhnlich vorübergehend in einen Kampf gegen das Königthum zugleich aus, und weil die Idee des Staats jezt ihre über allen Zwist der Theile stehende erhabene Stellung verliert, so beginnt die rohe Gewalt und die unorganische Masse an ihr Recht zu glauben, nunmehr auch ihrerseits nach der Staatsgewalt greifen zu dürfen. Dann entstehen die Revolutionen. Nur da ist eine Revolution möglich, wo das Königthum auf diese Weise seine Aufgabe verkennt; jede Revolution geht nur gegen die Verschmelzung der königlichen Machtvollkommenheit mit den Interessen eines besonderen Theiles des Volkes; es giebt keine Revolution gegen das Königthum selber; es wäre das als ob es eine Revolution des Volkes gegen den Staat selber geben könnte; denn der germanische Staat ist eben der Staat des Königthums. Hier liegt daher die einzige Gefahr für das einzelne Königthum und hier liegt zugleich seine wahre Aufgabe; es giebt keine Gewalt auf Erden, die es erschüttern könnte, so lange es als die über den Bewegungen der Gesellschaft stehende, die Entwicklung aller Classen derselben fördernde Macht erscheint; denn alsdann wird es für jeden das einzige Element sein, was in seiner höchsten individuellen Vollendung seine eigene Vollendung findet. Die Geschichte, und vor Allem die Geschichte der neuesten Zeit zeigt, daß die ganzen inneren Bewegungen der Völker in diesen Säßen eines jener allgemeinen Geseze haben, welche zwar nichts Individuelles zu bilden vermögen, aber welche unabänderlich das Verhalten des gegebenen individuellen Lebens zu dem anderen beherrschen. Sie sind die wahre Politik der königlichen Herrschaft; und niemals war es dringender, sie anzuerkennen als gerade im gegenwärtigen Augenblicke. Denn wir haben mit ihm eine zweite Stufe der Entwicklung beschritten.

Es ist oben gezeigt worden, wie nach der wesentlichen Aufhebung aller mittelalterlicher Standesunterschiede sich die heutige Gesellschaft in zwei große Theile scheidet, die Besißenden und die Nichtbesißenden; wie ferner der erste Theil durch die neueren Verfassungen seinen organischen Antheil am Staatswillen gewonnen, und wie der zweite sich allmählig zum Proletariat unfrer

« PreviousContinue »