Page images
PDF
EPUB

aus der resultatlosen Verwechslung wesentlich verschiedener Verhältnisse niemals herauskommen wird, ist von den tüchtigsten Lehrern der Staatswissenschaft bereits wohl allgemein anerkannt worden. Denn das ist das Wesen der Armuth, daß der Arme nicht im Stande ist, durch seine Arbeit seine nothwendigen Bedürfnisse zu befriedigen, weil er entweder gar keine oder eine gar zu geringe Arbeitskraft besißt. Der Proletarier kann dagegen arbeiten, und will es, gern, gut und viel, aber er will für diese seine Arbeit einen Lohn, den nun einmal nicht die Arbeit allein, sondern nur Capital und Arbeit zugleich erreichen können. Wie dem Armen zu helfen sei, ist mithin die Beantwortung der Frage, was man als die richtige Form der Armenunterstüßung ansehen will; die Frage nach dem Inhalte der Tendenzen des Proletariats dagegen ist eben die Frage nach dem Verhältniß des Capitals zur Arbeit überhaupt. Es wird wohl, nachdem einmal das Proletariat entstanden ist, jene Unterscheidung schwerlich noch ferner Widerstand finden.

So stellt sich nun das Proletariat unserer Gegenwart dar; eine mächtige, geschloffene, von Einem Geist beseelte, die innere Verwandtschaft ihrer Richtung mit dem allgemeinen Inhalte der Zeit unermüdlich behauptende, den ganzen Stand der Nichtbesizer mehr und mehr in sich absorbirende Masse. Die Gegenfäße in der Gesellschaft haben ihren Ausdruck und ihr Bewußtsein erhalten; sie fangen an zu erkennen, worum es sich handelt; sie bereiten die Waffen, die ihnen ihre Stellung giebt, und schon haben die ersten Zeichen der Zeit uns gemahnt, daß wir am Vorabende eines Kampfes im Herzen der Gesellschaft stehen.

Giebt es denn nun hier keinen Ausweg? Müssen alle Elemente des gesellschaftlichen Lebens in jenem Gegensaße aufgehen? Vermag das menschliche Leben keine Macht zu erzeugen, die beides umfassend, über beiden als die versöhnende, höhere, den Widerstreit zum friedlichen Ziele leitende Gewalt stände?

Wohl giebt es eine solche Gewalt schon innerhalb des persönlichsten Lebens des Individuums, und glücklich ist das Volk und die Zeit zu nennen, die sich ihrer Herrschaft zu unterwerfen versteht. Je tiefer der Mensch auf den Inhalt seines persönlichen Daseins betrachtend eingeht, desto klarer muß es ihm werden, daß eben der Inhalt des Lebens selber ein unendlicher, ein gelöster Widerspruch ist. Das Tiefste, was in uns lebendig treibt und quillt, was in jedem Gefühle des Schmerzes, in jeder Ahnung eines schöneren Daseins die Saiten des Gemüthes erklingen läßt, ist höher und größer als Alles, was die Erde auch dem Glücklichsten bieten kann. Ewig jung,

ist ihm das ewig aufs Neue alternde Dasein des Jrdischen eine Last, die es drückt; unendlich in seinem Sehnen und Hoffen, kann und wird das Endliche, und besäße der Mensch es alles zumal, es nie befriedigen. Jedem Volke und jeder Zeit eines Volkes nimmt das Gefühl dieses Widerspruchs eine besondere Gestalt an; und wo es wach und lebendig ist, da wird und muß es den Einzelnen abhalten, von seinen Mitmenschen zu fordern, was die Welt selber nicht geben kann. Das Verständige kehrt mit diesem Bewußtsein in den engen Kreis seiner äußeren Eristenz zurück; und das ewige Gesez für Alle wird für ihn zur Bescheidenheit mit seinem Loose. Hier ist die Heilung aller Widersprüche des Lebens, der Trost und die Kraft im Unglücke, der Quell inneren und äußeren Friedens für jeden Einzelnen ; warum denn vermag er nicht für Alle zu sein, was er für das Einzelleben so oft sein muß?

Es ist nicht leicht, ein Mensch im höchsten Sinne des Worts zu sein; und freilich ist es Niemand in einem höheren als derjenige, der in jenem Beschiedenen die Befriedigung seines Daseins zu suchen weiß. Die Zeit wird kommen, wo der hohe Werth dieser Gewalt von dem Geschlechte der Menschen erkannt werden wird, und so lange die Begrenzung das Loos des Irdischen ist, so lange wird keine andere Macht das goldene Zeitalter der Menschheit zurückgeben können. Aber es ist mit ihr wie mit allem Besten. Die Natur giebt es uns mit; einmal aber verloren, kann nur die höchste Anstrengung der bewußten Arbeit es wiedergewinnen. Zu dieser Arbeit mag nun der Einzelne fähig sein; das Geschlecht unserer Zeit ist es nicht. Das Gegenwärtige allein vermag dem Gegenwärtigen zu helfen, und selten wohl haben die tiefsten Bewegungen einer Zeit einen so überwiegend nega tiven Inhalt, ein so allgemeines Bewußtsein von der Nichtbefriedigung in der gegebenen Auffassung höherer Dinge gehabt, als die unsrigen. Göttliches und Menschliches, Ewiges und Endliches, Religion und praktisches Leben sind durchwühlt und durcheinander geworfen; in der Verwechslung einander selber nicht mehr entsprechend, entsprechen sie auch dem Bedürfniß derer nicht, die sich ihnen zuwenden, und wenn es gewiß ist, daß hier und nirgends anders die leßte Versöhnung dereinst gefunden sein wird, so ist es nicht minder gewiß, daß sie bis jezt hier nicht vorhanden ist.

So muß denn, da das innere Leben der Menschheit noch jenen Frieden nicht kennt, das äußere sich selber wenigstens die Mühe geben, deren es als äußeres bedarf. Es gab eine Zeit, wo der Schwerpunkt dieser Mühe in der Gesellschaft selbst lag; diese Zeit ist vorüber. Aber niemals ist die Gesellschaft allein die Ordnerin ihres Lebens gewesen.

Ueber ihr, sie zusammen

fassend, als der einheitliche und persönliche Ausdruck ihres Inhalts, steht der Staat. Mit ihm tritt ein neues und eigenthümliches Element in den Kreis der Betrachtung, und wir müssen ihm daher seine besondere Stelle geben.

VI.

Das Proletariat und der Staat.

Es kann natürlich hier nicht die Aufgabe sein, den Begriff des Staats zu entwickeln. Aber dagegen müssen wir nun versuchen, die Stellung genauer nachzuweisen und die Aufgabe anzudeuten, welche der Staat überhaupt und die germanische Staatsform im besonderen für die Gesellschaft und ihre Bewegung hat.

So wie der Einzelne in die Gemeinschaft mit Anderen tritt, so wird er gezwungen, anzuerkennen, daß er bis zu einem gewissen Grade durch die Berührungen und Beziehungen, die daraus erstlich zwischen ihm und jedem Anderen, dann zwischen ihm und der ganzen Gemeinschaft entstehen durch sein Dasein für Andere und in demselben - beherrscht wird. Die Gewalt derselben ist absolut selbständig und unabhängig von ihm; sie ordnet sich in sich selber; sie fängt an, sich als eine bewußte Macht hinzustellen; fie wird eben dadurch zu einer Persönlichkeit, und diese als selbständige Persönlichkeit erscheinende Gemeinschaft, oder die Gemeinschaft der Menschen, insofern sie mit persönlichem, freien, selbstbestimmten Wissen, Wollen und Thun auftritt, ist der Staat. Gemeinschaft und Staat verhalten sich daher wie das äußere und das innere Leben der einzelnen Persönlichkeit, wie das natürliche Gesez und die freie Selbstbestimmung.

Weil nun auf diese Weise der Staat seiner Natur nach das freie und persönliche Element in den Gefeßen, welche die Gesellschaft beherrschen, selber ist, so liegt es in diesem seinen Wesen, daß er sich zur Aufgabe stelle, die freie Entwicklung der Einzelnen gegen das absolute Geseß der gesellschaftlichen Ordnung zu schüßen und zu heben. Denn da er seinem Begriffe nach die persönliche Einheit aller einzelnen Persönlichkeiten ist, so ergiebt sich ihm nothwendig das Princip, daß das Maß der Entwicklung der Einzelnen zum Maße der Entwicklung seiner selbst werden muß. Je reicher, je kräftiger, je edler, je verständiger die Angehörigen des Staats find, desto besser ist er selber in aller Beziehung. Die Vernichtung, ja die

Beschränkung der freien persönlichen Entwicklung der Einzelnen durch andere Einzelne, und mithin die Unterdrückung des einen Theiles der Gesellschaft durch den anderen wird damit zu einer Beeinträchtigung seines eigenen Lebens; denn erst die Bedingungen, unter welchen nicht Viele, sondern unter welchen Alle stehen, sind auch die Bedingungen seines Daseins.

Daraus nun ergiebt sich der Saz, auf welchem die innere Verbindung der Wissenschaft vom Staate mit der Wissenschaft der Gesellschaft beruht. Da das Leben der Gesellschaft die Entwicklung der Einzelnen durch die Einzelnen, der Staat aber die Entwicklung der Einzelnen durch die in ihm persönliche Einheit Aller enthält, so wird er eine um so höhere Aufgabe und damit um so mehr äußere Gewalt erstreben und besizen, je mehr die Gefeße des gesellschaftlichen Lebens diese Entwicklung des Einzelnen durch die Anderen hemmen; seine Aufgabe und Macht wird dagegen da am geringsten sein, wo die Gesellschaft so gestaltet, daß Jeder in ihr durch eigne Kraft zur Verwirklichung seiner individuellen Bestimmung gelangen kann; seine Aufgabe aber wird in Grenzen und Inhalt da am meisten bes stritten und am verschiedensten beurtheilt werden, wo der Zweifel auftritt, ob die Gesellschaft Allen durch ihre eigene Macht forthelfen könne, oder ob ihre Gestalt ihr dies unmöglich macht. Dies ist das allgemeinste, durch das Wesen der Persönlichkeit des Staats bedingte Verhältniß deffelben zur Gesellschaft der Menschen.

Allein dies Verhältniß bleibt nicht in seiner Reinheit bestehen. Eine Reihe von Thatsachen treten auf, die es unklar machen und untergraben. Und diese müssen wir als Einleitung zu dem Folgenden betrachten. Die Natur einer so allgegenwärtigen Macht, wie der Staat, kann sich nun wohl der logischen Deduction, nicht aber der einfachen und natürlichen Auffassung eines Volkes verbergen. Diese Auffassung erkennt zunächst das Einfachste am Staate, fein selbständiges persönliches Leben; sie giebt diesem Leben seinen selbständigen Ausdruck in einer Persönlichkeit oder einem Körper, den sie außerhalb und über die Gesellschaft hinstellt. Das ist der Herrscher im Staate. Der Herrscher kann seiner Form nach ein verschiedener sein, aus einem Einzelnen, aus Vielen, aus Allen bestehen; aber seis ner Natur nach ist er stets daffelbe: die Anerkennung der selbständigen, über jeden Einzelnen und jedes Einzelinteresse, ja über jeden auch noch so großen Theil des Ganzen erhabenen Persönlichkeit des Staats.

Allein dieser Herrscher gehört dem Einzelnen an; die Idee des Staates ist in ihm zum Menschen und fähig geworden, die Sonderverhältnisse in sich aufzunehmen. Oft genug geschicht dies durch bloße Willkühr, und

dann entsteht Unordnung mancher Art. Allein das entscheidende Verhältniß für das Leben eines Staates liegt auf einem anderen Punkte.

Der Staat ist die Einheit der Vielheit mit ihrer ganzen Bewegung. In dieser entsteht der Verkehr, die Vertheilung der Güter, die Scheidung der Classen der Gesellschaft. Sie treten in Gegensatz zu einander, und jede dieser Classen begreift bald mit sicherem Tacte, daß eine Classe der bloßen Gesellschaft die andere als solche so wenig beherrschen kann, wie ein Glied eines Körpers das andere, sondern daß das einzige Mittel, zu dieser Herrschaft ihrer Interessen über die Interessen des anderen Staates zu gelangen, darin liegt, daß sie die Staatsgewalt selber in ihre Hände bekomme. Daher geschieht es, daß jeder Kampf in der Gesellschaft zu einem Kampfe um den Besiß der Staatsgewalt wird, möge diese nun da sein, in welcher Form sie wolle. Dieser Kampf ist unvermeidlich, wo überall die niederen Classen der Gesellschaft in die höheren überzugehen trachten, und alle Zeiten und Völker liefern Beispiele genug für denselben, Beispiele, die man gewöhnlich für die Geschichte des Proletariats selber hält, während sie doch nur einen Theil dieser Geschichte bilden. Wo dieser Kampf nun ausbricht, da richtet sich der Inhalt und die Folge desselben wesentlich nach Einem Grundsay. Es kommt nämlich bei ihm darauf an, ob die Staatsgewalt so gebildet ist, daß sie sich über den streitenden Elementen mit ihrem eigenthümlichen Leben erhalten kann, oder ob ihre Verfassung und Geschichte es ihr unmöglich macht, sich des Heimfalls an eins der streitenden Elemente zu entziehen.

Betrachten wir hier den lezteren Fall zuerst, so ist der Keim des Untergangs der Staaten durch ihre Gesellschaft unbedingt mit dem Entstehen jenes Kampfes selber gegeben.

Zuerst, gleich nach dem gewöhnlich furchtbaren Kampfe, der alsdann ausbricht, erscheint allerdings die Staatsgewalt immer und nothwendig kräftiger als je, weil sie ihre allgemeine Macht jezt zu einem besonderen Zwecke anwenden, und mithin in ihm sich concentriren muß. Allein eben das ist ein absoluter Widerspruch mit dem Wesen des Staats, und dieser Widerspruch vernichtet ihn. Denn es fällt die Staatsgewalt entweder in die Hände der höheren Classe, und die niederen Classen verlieren mit der Möglichkeit, jezt noch von dem sie beherrschenden Staat die Erfüllung seiner Aufgabe in Beziehung auf sie und ihre Lage hoffen zu dürfen, Muth und Kraft, dasjenige für ihn zu thun, ohne welches er nicht leben kann; oder die niedere Classe slegt, und weil der Sieg des Niederen über das Höhere immer nur ein Sieg durch äußere Gewalt sein kann, so entsteht früher oder

« PreviousContinue »