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Recht erreicht oder nicht, hängt nicht davon ab, ob er die Bedingungen desselben erfüllen kann oder nicht; und ob er dies vermag, das wiederum erscheint bedingt durch die Geseze, welche für die Vertheilung jener Güter gelten. Niemals haben diese Geseße eine gleich hohe Bedeutung in der Geschichte gehabt; niemals haben sie mit größerer Nothwendigkeit gefordert, daß man sich ihnen mit dem ganzen Ernste zuwende, dessen die Wissenschaft fähig ist.

Jene Güter nun scheiden sich auf den ersten Blick in zwei Klassen, die einen wesentlich verschiedenen Character haben. Die erste Classe umfaßt die rein persönlichen Bedingungen des Staatsbürgerthums, die volle geistige und leibliche Mündigkeit und die individuelle Ehrenhaftigkeit, die nur durch ein Verbrechen verloren wird. Diese Bedingungen gehören dem individuellen Leben als solchem an; sie sind gleichsam die Voraussetzungen der vollen Menschlichkeit, und die Frage tritt erst für Diejenigen ein, welche, nachdem sie sie erfüllt, nun mit gleichem Rechte vor der zweiten Classe stehen, der Classe der vermögensrechtlichen Bedingungen des vollen Staatsbürgerthums.

Alle Staaten des Staatsbürgerthums haben mit wenigen und rasch vorübergehenden Ausnahmen den Grundsaß gemein, daß sie als Bedingung der wirklichen Staatsbürgerschaft ein gewisses Maß wirthschaftlicher Güter, oder ein gewisses Maß des persönlichen Eigenthums fordern. Eine so allgemeine und man kann fast sagen unwillkürlich anerkannte Thatsache in jeder freien Staatsordnung kann nicht zufällig, ja nicht einmal blos zweckmäßig sein. In jener Uebereinstimmung muß offenbar ein tiefer, mit dem ganzen persönlichen und öffentlichen Leben auf das Engste verbundener Grund liegen, der durch sich selber jenes Maß des persönlichen Eigenthums als eine absolut nothwendige Voraussetzung der vollen persönlichen Entwickelung überhaupt erscheinen läßt. Es ist zu bewundern, daß die so tief eindringende Beobachtung der Wirthschaftslehre auf der einen, der Staatskunst auf der andern Seite sich dieser Erscheinung bisher nicht mehr zugewandt hat; freilich muß man, will man sie verstehen, einen Schritt weiter zurückgehen.

Es ist aus Demjenigen, was bereits bei dem Begriffe der Gesellschaft gesagt ward, klar, daß das Erarbeitete die gleichsam selbständig gewordene Gestalt ist, in welcher sich der Wunsch, das Bedürfniß, die Erkenntniß und die Thätigkeit des Menschen, zusammengefaßt, verwirklicht haben; es ist dasselbe der concrete Bürger, der zum Träger der menschlichen Entwicklung geworden ist; es ist die Wirklichkeit dieser Entwicklung, der arbeitende

Mensch gleichsam außer sich selber erscheinend und hingestellt. In diesem Begriffe hat die Philosophie der Arbeit ihren Ausgangspunkt; ihr gebührt die Beherrschung eines Gebiets, auf das sie noch kaum den ersten Fuß gesezt hat.

Hier gehen wir nun, eine Reihe von Mittelgliedern überspringend, zu dem für uns einschlagenden Saße über. Jenes Erarbeitete heißt im Verhältniß zu dem Wunsch oder Bedürfniß ein wirthschaftliches, im anderen Sinne materielles Gut. In dem Besize eines Gutes besize ich daher nicht allein die Möglichkeit das Begehren zu befriedigen, sondern ich besize zugleich in ihm die ganze Masse der Lebensthätigkeit, die es hat entstehen lassen. Ich bin daher nicht blos durch die Güter reicher in Beziehung auf mein eigenes Begehren, sondern ich fasse in ihnen zugleich das Leben der andern in meiner Lebenssphäre zusammen; ihre Arbeit und mein Gut bedingen sich gegenseitig; durch den Besiz des Gutes bilden wir in unserm äußeren Leben eine Einheit. Und dieses gegenseitige Bedingtsein des äußeren Lebens aller durch die Güter in ihrem Besiz sezt sich fort, indem das Gut selbst wieder als Preis die Thätigkeit anderer erzeugt, die wiederum Güter producirt, welche aufs Neue zu neuer erzeugender Thätigkeit anspornen. Erst die Güter bilden daher das lebendige, stets gegenwärtige, immer aufs Neue fruchtbare Band, das das Leben aller Einzelnen als Gemeinschaft erscheinen läßt; erst das Gut des Einzelnen ist die Bürgschaft seines absoluten Interesses an dieser Gemeinschaft, und erst das Gut und sein Besiß macht ihn mithin zum wahren Gliede derselben, zum Staatsbürger. So ruht im Wesen der wirthschaftlichen Güter eine Macht, die weder der Einzelne noch der Staat jemals verkennen kann; sie sind die materielle Basis des Staatslebens selber.

Daraus denn ergab es sich in ganz natürlicher und verständiger Weise, daß die Staaten das Vermögen zur Bedingung des Staatsbürgerthums machten. Und schon damit gewann jezt der Besiß einen Plaß, den er früher nie gehabt. Aber nicht minder bedeutend war seine gesellschaftliche Stellung.

Bisher, unter der Herrschaft der Standesunterschiede, hatte die Geburt für jeden Einzelnen eine Grenze gezogen, über die er zwar nicht hinaus, aber unter welche er auch nicht sinken konnte. Die Anerkennung der Gleichheit war wesentlich nur die Aufhebung dieser Grenze gewesen. Jezt galt nur noch der Besiß als das Bedingende für den Einzelnen; und seine Einwirkung war klar und nothwendig genug.

Da nämlich in jedem einzelnen Gut ein bestimmtes Maß der Thä

tigkeit des eigensten persönlichen Lebens Anderer enthalten und verkörpert ist und mithin auch durch dasselbe besessen wird, so ergiebt sich, daß eben dieses Maß zugleich das Bedingende ist für das ganze Verhältniß des Einzelnen zu allen übrigen und den Gütern, welche sie erzeugen und darbieten. Dieser allgemeine Sag verwirklicht sich in den bekannten Thatsachen, daß das Maß des Vermögens der Einzelnen zur Bedingung wird für alle Genüsse des Lebens, zur Bedingung wird für seine geistige Entwicklung, zur Bedingung wird für seine Theilnahme am Staatsleben, zur Bedingung endlich wird für seine Stellung in der Gesellschaft und damit auch für die Ehre und die Anerkennung seiner Persönlichkeit in den meisten Beziehungen, die das Leben des Menschen unter seinesgleichen enthält. So trat der Besiz als diejenige Macht auf, welche nunmehr bestimmt war, die Verhältnisse der Einzelnen zum Einzelnen und damit zu allen Anderen fast ausschließlich zu beherrschen.

Da nun dieses somit fest steht, und da auf diese Weise das Maß des Besizes jezt für das ganze persönliche Leben eine Bedeutung erreicht hat wie nie zuvor, so ergiebt sich, daß die Geseze, welche die Vertheilung des Besizes beherrschen, nunmehr gleichfalls eine Wichtigkeit erhalten, die sie niemals gehabt haben.

Diese Geseze nun fordern allerdings ihre eigene und genaue Darstellung. Für unsere Aufgabe genügt es jedoch, dasjenige herauszuheben, das alle anderen beherrscht; und dieses Gesez stüßt sich auf das Wesen des Capitals und der Arbeit in der Gütererzeugung.

Es zeigt sich nämlich bei der genaueren Betrachtung derselben, daß die Production in dem Maße steigen muß, in welchem die Masse der, einer bestimmten Arbeit zugewendeten, Capitalien steigt. Daher haben die Capitalien, wie man zu sagen pflegt, die beständige Neigung, sich in einer Hand anzuhäufen, da das größte Capital stets mit dem geringsten Gewinn sich begnügen kann. Daraus folgt, daß mehr und mehr die Unternehmungen in die Hände des Capitals fallen, und daß die ganze Masse Derjenigen mithin, welche ohne Capital sind, das ist die Masse der Arbeiter, in derselben fortschreitenden Progression von dem Erwerb des Capitals entfernt werden, in der es ihnen mehr und mehr unmöglich wird, eine selbständige Unternehmung zu beginnen und durch den zu ihrem Arbeitslohn hinzugeschlagenen Unternehmungsgewinn zu einem selbständigen Besite zu gelangen. Die Macht des wachsenden Capitals muß daher allmählig die Arbeiter auf ihren ausschließlichen Arbeitslohn verweisen, von welchem aus weder sie noch ihre Familie der Regel nach irgend eine Aussicht haben, in

die Claffe der Besißenden überzugehen. Auf diese Weise scheidet das Gesetz der Production zwei Hauptclassen in der Menschheit, die Claffe der Be= fizenden und die Classe der Arbeitenden, von denen der Uebergang jezt nicht mehr durch eigene persönliche und freie Anstrengung, sondern nur noch durch Glücks- und Unglücksfälle vermittelt wird. Wie innerhalb dieser beiden Classen nun wieder die Concurrenz und das Geschick die Abtheilungen derselben regelt, gehört der genaueren Untersuchung der Wissenschaft der Gesellschaft an; sie hat ferner zu zeigen, welchen Einfluß die Erwerbsform, die besondere Art der Arbeit, die Verschiedenheit des Capitals, auf die ganze innere und äußere Denk- und Lebensweise derselben ausübt, und nun sich dadurch eine reiche und lebendige Gestalt der Gesellschaft entfaltet. Für uns muß der obige Grundsaß genügen.

Blicken wir nun auf Dasjenige zurück, was wir eben über den Begriff der Gesellschaft angeführt haben, so ergiebt sich, daß im Laufe der Geschichte der Gegensatz zwischen dem Besitzenden und Arbeitenden mit unserem Jahrhundert der allgemeine und fast ausschließliche Gegensaz in der Gesellschaft geworden ist. Diese Scheidewand aber hat nunmehr ihre eigenthümliche Bedeutung gewonnen. Redet man von dem natürlichen Menschen, oder will man den Begriff der Persönlichkeit untersuchen, so giebt es für beide nicht minder die natürliche oder philosophische Unterscheidung zwischen Besth und Nichtbesiß; allein beide erkennen den Grundsaz an, daß in der einzelnen Persönlichkeit die Möglichkeit liegt, vom Nichtbesiß zum Besiß zu gelangen; ja beide fordern sogar diesen Uebergang, weil für beide der Besiß die Basis der persönlichen Entwicklung ist. Allein das ist der Character unserer Zeit, daß die Gefeße der Gütervertheilung eben diesen Uebergang in Wirklichkeit fast unmöglich machen. Die beiden großen Classen der Gesellschaft stehen sich damit als geschlossene und beide in ihrer Art mächtige Massen gegenüber; und weil das Capital allein die Möglichkeit persönlicher Vollendung giebt, so folgt, daß jene die Scheidung der Classen beherrschende Ordnung des Güterlebens jezt das ganze persönliche Leben des Einzelnen beherrscht, und als eine Scheidung für alles Dasjenige erscheint, was dem Menschen das Beste, Edelste und Wünschenswertheste bedünkt. Und auf diesem Gegensage und den Gründen, die ihn erzeugen müssen, ruht der Zustand unserer heutigen Gesellschaft.

Somit kann man nun, indem man alles Bisherige zusammenfaßt, den Character unserer Gesellschaft dahin bestimmen, daß sie die Quantität in die Qualität der höchsten und sogar der blos nothwendigen menschlichen Güter zu einer bisher nie gekannten Höhe gebracht und die Völker reich und frei

gemacht hat wie nie zuvor; daß aber die Vertheilung dieser Güter des Reichthums wie der Freiheit, nicht durch das Princip der höchsten Entwicklung aller Einzelnen, sondern durch die Geseze beherrscht wird, welche die Capitalien in Unternehmungen beherrschen; oder daß die Ordnung der Gesellschaft auf der Herrschaft des Capitals über die Arbeitskraft ohne Capital beruht.

Wirst man nun den Blick zurück auf die frühere Darlegung des Sazes, daß in jeder lebensfähigen Gesellschaft in dem Augenblick ein Kampf herannaht, wo die Ordnung derselben die Freiheit der Persönlichkeit untergräbt, so ergiebt sich, daß der Kampf, dem die heutige Gesellschaft entgegen geht, der Kampf der Arbeitskraft mit dem Capital sein wird. Dies ist die Individualität der gegenwärtigen Epoche der europäischen Gesellschaft; und es ist nunmehr unsere Aufgabe, zu zeigen, daß dieser Kampf wirklich sich vorbereitet.

Wir betreten damit ein Gebiet, auf welchem es unter allen am meisten nothwendig erscheinen muß, jedes vorgefaßte Urtheil und jede leere Definitionsstreitigkeit zur Seite zu lassen. Es giebt viele Wissenschaften, in denen man das Recht hat zu fordern, daß die Untersuchung sich an einmal gewonnene Grundlagen, an eine einmal eingeführte und festbestimmte Reihe von Begriffen anschließe und dieselben gleichsam als Criterium für das Neue zu gebrauchen, das sich Plaz schaffen will. Zu diesen Wissenschaften gehört bis jezt die Lehre von der Gesellschaft und von ihrem Proletariat nicht; ja es ist wohl keine Bescheidenheit, sondern einfaches und ehrliches Anerkennen der Sachlage, wenn Jeder, der sich mit ihnen beschäftigt, von vornherein die Ueberzeugung ausspricht, daß es mehr als seiner Arbeit bedürfen wird, um ein allgemeines und durchgreifendes Resultat zu erreichen. Auch für das Folgende geben wir daher alles preis, was einem definitiven Resultate gleichen mag; es soll uns nur darauf ankommen, der Richtung, der Beobachtung und dem Blicke der Beobachtenden, so weit es an uns liegt, diejenigen Punkte zu bezeichnen, von denen aus jene große Frage betrachtet sein will. In diesem Sinne wollen wir es versuchen, das Wesen und den Inhalt des Proletariats nunmehr zu erfassen.

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