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ein innerer Feind entgegentritt, da kennt man ihn und weiß ihn zu erfassen als ein bestimmtes Ganze, deffen Gränzen, dessen Absichten, dessen Gewalt, dessen Gegenwart offen darliegen.

Man weiß, warum es sich handelt zwischen ihm und uns; man weiß, daß er mit den Kräften, die das Bestehende bietet, uns begegnen wird, und daß er mit gleichen Kräften bekämpft sein will; man weiß endlich, daß, wenn die Waage des Sieges sich auf seine Seite neigt, der Verluft zwar die Güter des Ganzen, aber doch nicht das persönlichste Verhältniß des Einzelnen treffen und vernichten wird. Man kann daher in solchem Kampfe den Ausgang fürchten, aber den Kampf selber wird man mit frischem Muthe übernehmen; denn auch den Ueberwundenen begleitet die Ehre eines tapferen Streites, die Opfer, die er gefordert, belohnt das Bewußtsein, das Seinige für das Wohl des Ganzen eingesezt zu haben, und immer wird dem erhebenden Glauben Raum genug bleiben, daß die volle und todverachtende Hingebung eines Volkes auch dem mächtigsten Feinde unüberwindlich ist. Wie ganz anders aber ist das Verhältniß, in dem das Proletariat zu den übrigen Theilen des Völkerlebens steht! Einmal vorhanden, ist es gleichsam nirgends und überall; es steht nicht der Masse der Bevölkerung als eine gesonderte zweite gegenüber, sondern auf allen Punkten derselben erscheint es zugleich, und je höher sich an einem bestimmten Orte das geistige und materielle Leben des Volkes entwickelt, desto massenhafter entfaltet es sich mit ihm, in ihm, durch dasselbe. Vergebens wird man versuchen, ihm eine äußere Gränze zu ziehen; ja vergebens ist es, seinen Umfang auch nur in Zahlen ausdrücken zu wollen. Zu den Füßen der Industrie, aus dem Saamen der geistigen Arbeit, auf dem Boden des öffentlichen Rechts und Lebens sproßt es empor, stets dasselbe in mannichfach wechselnder äußerer Lage und Gestalt. Und schwerer noch als sein Umfang läßt sich bestimmen, was seine Absichten und sein Ziel sind. In tausend Stimmen werden sie laut; aber jeder scheint seinen eignen Weg zu gehen. Doch Eins ist gewiß, und dies Eine ist es, das bald als der Hintergrund aller verworrensten Pläne und Richtungen erscheinen muß. Nicht um ein einzelnes Zugeständniß, nicht um ein einzelnes Gut, nicht um einen einzelnen Zustand handelt es sich in der Frage nach der Zukunft des Proletariats, und keine einzelne Anstrengung des edelsten Volkslebens, und wäre sie noch so glänzend und noch so hingebend, wird im Stande sein, diese Frage zu lösen. Sondern in der That, mit jener Frage scheint das ganze Gebiet dessen, was sich die Menschheit als ihre herrlichsten und werthvollsten Güter mit schwerer Arbeit errungen hat, in der Berechtigung seines Daseins, ja in der Mensch

lichkeit desselben ein fragliches werden zu müssen; das Bessere scheint Unrecht zu haben dem minder Guten, das Große dem Kleinen, das Machtvolle dem Unkräftigen gegenüber. Das persönliche Leben des Einzelnen, die Selbständigkeit individueller Entwicklung wird angegriffen; der Zustand der Civilisation und die Stüßen und Keime derselben werden mit gleicher Verurtheilung, mit gleichem Hasse getroffen. Und das ist das Eigenthümliche dieser eigenthümlichsten Erscheinung unsres Jahrhunderts, daß ste selber ihren Ausgangspunkt nicht etwa in solchen Grundsäßen und Begriffen sucht, die den höchsten Grundlagen menschlicher Erkenntniß widersprechen; sondern die Liebe, die Menschlichkeit, das Recht, die Geschichte, ja die Offenbarung geben ihren Inhalt her, um in dem Kampfe des Proletariats als Waffen zu dienen. Was bisher bestanden in der äußern Welt, soll eine neue Form finden; was bisher gegeben war im inneren Leben, soll dieser neuen Form in neuer Auffassung zur Grundlage dienen. Es giebt nichts, nicht einmal die Mangelhaftigkeit alles Zeitlichen, das der künftige Zustand aus dem gegenwärtigen nach seiner gänzlichen und gründlichen Vernichtung hinübernehmen will. So erscheint die Basis aller gemeinsamen Ordnung, das Bescheiden mit dem Beschiedenen und das Bedingtsein des zu Erstrebenden durch die dem Arbeitenden gegebenen Mittel aufgelöst, die Bande gebrochen, die im Stande wären, Furchtbares zu verhindern; an die Stelle der fruchtbaren Ruhe tritt die Unzufriedenheit, an die Stelle des genügsamen Genusses der unversöhnte Haß, und in die Lebenssphäre jedes Einzelnen, in den Kreis seiner Thätigkeit und seiner Hoffnungen, in das Verhältniß der Gruppen des Völkerlebens zu einander, in das Herz der Gesellschaft selber ist der Kampf hineingetreten.

Und dürfte dann nur endlich das deutsche Volk sagen, daß ihm wenigstens jene Zweifel und jener Kampf durch die Gunst eines freundlicheren Geschickes oder durch die innere beffere Natur erspart seien! Aber wer wird es wagen zu behaupten, daß wir frei bleiben können von dem, was die so eng verwandten Nachbarvölker bewegt, oder daß wir auch nur jezt noch davon frei wären? Schon hat der Kampf der Gesellschaft die große Völkerbrücke zwischen Osten und Westen, die flachen, industriereichen Ebenen der Rheinmündung betreten, schon bricht er im Süden hervor durch die Thäler der Schweiz, in deren bergumschlossenen Gebieten die allgemeinen Fragen des Jahrhunderts mit der ganzen Verbissenheit localen Haders sich auf das Engste verschmelzen; schon ziehen die ersten Andeutungen jener Bewegungen auch über unsre eigenen Häupter hin, gefahrlos zwar für sich, aber die Gefahr verkündend. Es ist nicht mehr möglich, als ein Fremdes

mit neugieriger Ruhe zu betrachten, was bereits den Fuß auf die eigene Schwelle gesezt hat; es ist nicht mehr eine Sache Frankreichs, Englands, der Schweiz und Belgiens, sich mit ihrem Proletariat abzufinden so gut sie können oder nicht können; es ist unfre eigene Sache, um die es sich dort handelt, und es ist Zeit geworden, daß wir erkennen, um wie viel es sich dabei handeln wird. Und hätte deshalb der Gegenstand, den wir nunmehr zu erfassen haben, kein historisches, kein systematisches, kein statistisches Interesse, groß genug, um seine Berücksichtigung von dem deutschen Leser zu fordern, so wäre die materielle Bedeutung der Sache wahrlich schon für sich Grund genug, zur Theilnahme, zur ernsten Ueberlegung bei allen demjenigen anzuspornen, was jene Bewegung betrifft. Und das um so entscheidender, als unter allen Fragen, welche unser Jahrhundert bewegen, keine mit gleicher Gewalt und mit gleich schwieriger Lösung uns entgegentritt. Denn hier wie in allen den Dingen, deren Gültigkeit das Leben Aller zugleich betrifft, ist es gewiß, daß jene Lösung nie durch den Einzelnen allein gefunden wird, sondern daß erst die gemeinsame Arbeit das gemeinsame Ziel zu erreichen befähigt ist. Jene innere Theilnahme Aller an dem Gegenstande der Thåtigkeit des Einzelnen ist die Luft und das Licht zugleich, durch die sie gedeiht; und selten wohl hat man mit mehr Recht gefordert, was der Drang der Sache mit gleicher Nothwendigkeit zu leisten gebietet.

Gerade deshalb nun, weil wir in der Betrachtung des französischen Socialismus und Communismus vor einer europäischen Erscheinung stehen, deren innerer Zusammenhang mit dem ganzen Leben des Volkes in allen seinen Theilen von Niemandem bezweifelt wird, treibt der Gegenstand selber die Untersuchung über seine localen und sogar über seine volklichen Gränzen hinaus. Zwar das ist gewiß, daß das französische Proletariat seine eigene Gestalt und Geschichte hat, und daß es sehr wohl thunlich ist, sich auf diese zu beschränken. Allein das, was dieses Proletariat mit den gleichen Erscheinungen anderer Länder eben gemein hat, das, wodurch wir gezwungen werden, es selber nur als einen Theil einer viel allgemeineren Entwickelung anzuerkennen, das mithin, wodurch es seine höhere und allgemeinere Bedeutung empfängt, wird uns nicht in ihm allein gegeben. Ist es wahr, daß die Erscheinung des Proletariats Frankreich keinesweges allein angehört, sondern daß im Gegentheile alle civilisirten Länder eine entsprechende Bildung in ihrem Schooße erzeugt haben, so muß sie aus Ursachen entstanden sein, die gleichfalls nothwendig als allgemeine betrachtet werden müssen. Und wenn es Mittel giebt, ihm und seinen Gefahren zu begegnen, so müssen diese Mittel eben nirgends anders liegen, als in jenen dem allgemeinen

Wesen des Proletariats zum Grunde liegenden Bedingungen. Wir glauben daher, daß die Sache an sich so wie ihre gegenwärtige Bedeutung mit gleicher Berechtigung fordere, daß jede Beobachtung des Proletariats von ihrem besonderen Standpunkte aus wenigstens den Versuch mache, das eigenthümliche Wesen desselben in seinem rechten Kerne zu erfassen. Und schwerlich wird es daher einer besonderen Entschuldigung bedürfen, wenn wir als Einleitung dem Folgenden eine Untersuchung über die Natur und die inneren Kräfte des Proletariats vorauffenden.

Nur daß man uns dabei Eins zugestehe. Leicht ist die Meinung bereit anzunehmen, daß man eine solche Erscheinung wesentlich für sich zu betrachten, aus ihrem eigenen Inhalte ihren Umfang und ihre Bedeutung allein zu bestimmen habe. Nicht einmal aber im Organismus der Natur ist es möglich, sich für die Erkenntniß des Einzelnen auf dies Einzelne zu beschränken; wie viel weniger im Organismus des persönlichen Lebens, in dem stets das eine Lebendige das andre durchdringt, begränzt, bekämpft und erhält. Was hier dem Einen gehört, das wird zum Eigenthum Aller, und das Eigenthum Aller kehrt zum Einzelnen zurück; Ein Leben umfaßt das Ganze, und erst die Erkenntniß der Stelle, welche das Besondre in diesem Allgemeinen einnimmt, giebt die Möglichkeit das wahre Wesen des ersteren zu verstehen. Wenn man daher nach dem Begriff und der Bedeutung des Proletariats fragt, so wird man fast unwillkührlich dahin kommen, dieses Proletariat als Theil des größeren, es selber wieder einschließenden Ganzen zu betrachten; wenn es den Anlaß giebt, sich mit diesem Ganzen zu beschäftigen, so giebt das leztere erst die Möglichkeit, jenes zu verstehen. Dies Ganze aber ist die Gemeinschaft der Menschen überhaupt, die, in einen Begriff zusammengefaßt, als eine in ihrer Gestalt und Bewegung durch ihre eigenen Elemente bestimmte und geformte, und damit als ein innerlich organisches Leben erkannte, die Gesellschaft heißt. Das Dasein des Proletariats zwingt uns, die mannichfachen und oft wiederholten Betrachtungen über die menschliche Gesellschaft zur Wissenschaft der Gesellschaft zu erheben; die Wissenschaft der Gesellschaft muß dafür uns lehren, was das Proletariat ist, was es will, was es sein wird. Es wird hier nicht zum erstenmale gesagt, daß gerade hierin ein wesentlicher Einfluß des Proletariats liegt, daß es uns dahin bringen wird, jene Wissenschaft als selbständige anzuerkennen, und ihr als solche eine selbständige Arbeit zuzuwenden. Das nun freilich wird man nicht fordern, daß wir als Einleitung und an diesem Orte den ganzen Umfang einer solchen, vielleicht der schwierigsten staatswissenschaftlichen Aufgabe lösen sollen. Allein wenn es nicht

genug ist, blos von den Gefahren des Proletariats geredet zu haben, so wird ein kurzer Versuch, dasselbe in seinem Verhältniß zur Gesellschaft darzustellen und eben auf diese Weise sein eigentliches Wesen zu erfassen, gewiß ein wohlberechtigter erscheinen.

II.

Der Begriff der Gesellschaft.

Gewiß ist es, daß alle Erscheinungen einen Grund haben, den man mit den Sinnen nicht erfassen kann, und für dessen Wahrheit daher auch die sinnliche Gewißheit nicht genügt. Zu den bedeutendsten Zeichen der hohen Entwicklung unserer Zeit gehört es, daß dieses Bewußtsein, wie das Bedürfniß, jene tieferen Gründe zu erkennen, anfängt ein ganz allgemeines zu werden, und daß die Betrachtung der Verhältnisse neben ihrer innern. Berechtigung jezt auch die Aufgabe hat, einen Blick tiefer in das Wesen des Lebendigen zu thun, um seine äußere Gestaltung zu begreifen. Wir machen von diesem Rechte Gebrauch; schwerlich würden wir ohne dasselbe unser Ziel erreichen.

Der Begriff der Gesellschaft gehört nicht bloß darum zu den schwierigften in der ganzen Staatswissenschaft, weil sein Umfang ein so allgemeiner ist, daß man nur schwer dazu gelangt, ihm überhaupt einen selbständigen Inhalt zu geben, sondern auch vorzüglich deshalb, weil jeder gewohnt worden ist, mit jenem Ausdruck eine mehr oder weniger klare Vorstellung zu verbinden, die vollkommen willkührlich wird, da es bisher kaum einen Anlaß gab, sich über ihren Inhalt recht klar bewußt zu werden. Wer daher von einer Wissenschaft der Gesellschaft redet, wie man von einer Wissenschaft des Staats oder der Wirthschaft zu reden pflegt, der hat nicht bloß die Aufgabe, jenen Begriff hinzustellen, sondern zugleich die Pflicht, mit der unendlichen Masse vager Vorstellungen und mit dem allgemeinen Glauben, daß wenigstens hier jeder Recht haben und doch meinen könne was er wolle, sich in den bestimmtesten Gegensatz zu sehen. Wenn aber die Gesellschaft eben so wirklich, eben so allgemein, eben so nothwendig ist als der Staat, wie sollte es denn möglich sein, daß für jene nicht gefordert werden und geschehen könnte, was für diesen als nothwendiger Ausgangspunkt aller tieferen Betrachtung desselben hingestellt wird, das Erfaffen seines Wefens

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