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Staats-Wörterbuch.

In Berbindung mit deutschen Gelehrten

Herausgegeben YOR

Dr. J. C. Bluntschli und K. Brater.

Bierter Band.

Stuttgart und Leipzig, 1859.

Expedition des Staats- Wörterbuchs.

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Friesen.

Sobald uns heimische Geschichtsquellen nähere Kunde von den verschiedenen deutschen Völkerstämmen unseres großen Vaterlandes geben, in die sich seit der Völkerwanderung dessen Bewohner gruppirt haben, vernehmen wir längs der Nordsee, von Tondern im Herzogthum Schleswig bis Brügge in Flandern, den Namen der Friesen. Einen schmalen Uferstrich bewohnt das Volk, der etwa 80 geographische Meilen lang, nirgends breiter als zehn, von dänischem, sächsischem und fränkischem Lande in die See gedrängt wird, die ihn in ihren Fluthen zu begraben droht. Scharf unterscheidet Sprache, Recht und Sinnesart den Friesen von seinem Nachbaren; ein Jahrtausend hat nicht vermocht seine eigenthümliche starre Kraft zu brechen, noch heute ist sie den Nachkommen der alten Friesen geblieben, unerachtet das uralte friesische Stammrecht fast spurlos verschwunden ist und nur noch geringe Ueberreste der friesischen Sprache fortklingen. In einzelnen Gemeinden der niederländischen Provinz Friesland, auf der oldenburgischen Insel Wangeroge, und in dem jest ebenfalls zum Großherzogthum Oldenburg gehörenden Saterlande, wird noch ein aus dem ältern Friesisch der Gegend hervorgegangener, in neuester Zeit mehrfach im Verschwinden begriffener Dialekt, als eine besondere Sprache neben dem Holländischen und Plattdeutschen gesprochen; die andern friefischen Gegenden hat die Sprache der Umwohner überfluthet, und wenn auch in ihre jetzigen Dialekte mehr oder weniger friesische Worte und Laute übergegangen find, so zeigt doch eine nähere Betrachtung, daß dieselben nicht für Fortentwicklungen der ältern friesischen Sprache der einzelnen Gegend, d. i. für neufriesische Dialekte gelten können.

In einem Theil des Landes, welcher bis zur gegenwärtigen Stunde von Friesen bewohnt wird, in der jest niederländischen Provinz Friesland, deren Mittelpunkt Leuwarden bildet, kennen wir keinen Volksstamm, der vor den Friesen dort gesessen hat; und wenn wir auch annehmen müssen, daß vor ihnen dort andere Menschen gewohnt haben, so hat doch keine deutsche Bevölkerung irgend einer andern Gegend größere Ansprüche für Ureinwohner ihrer Heimat zu gelten, als die jenes merkwürdigen Küstenstriches zwischen dem Flie, d. i. der Mündung der Zuiderzee, und dem alten Laubach, der im Osten die Provinz Friesland von der Proving Groningen scheidet. Mit Fug und Recht nennen wir dieses Land für den Forscher ältester deutscher Volksart einen heiligen Boden.

Im Uebrigen ist die räumliche Ausdehnung, in der die Friesen auftreten, eine verschiedene: 1) in der Römerzeit, 2) in der Zeit nach der Völkerwanderung bis ins elfte Jahrhundert, und endlich 3) in der spätern Zeit.

1) Die Römerzeit kennt als Hauptland der Friesen die heutige niederländische Provinz Friesland, aufferdem aber wohnen in ihr Friesen westwärts in weiterer Ausdehnung an der Nordseeküste hin bis zur Mündung des südlichsten Rheinarmes, der sich mit der Maas verbunden ins Meer ergießt. Dieses westliche Land zwischen Flie und Maasmündung, d. i. die spätern Provinzen Nord- und Südholland, Bluntsøli und Brater, Deutsches Staats-Wörterbuch. IV.

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waren nach den Nachrichten des Plinius von mehreren kleineren, anderwärts zu den Friesen gerechneten Völkerschaften bewohnt, die er als Frisii, Chauci, Frisiabones, Marsaci, Sturii bezeichnet, und von denen er die den Chatten verwandten Bataven, und die meistens in Verbindung mit letteren auftretenden Caninefates, auf der Insula Batavorum, unterscheidet. Indem Tacitus große und kleine Friesen einander entgegenstellt, scheint er unter jenen die östlichen, unter diesen die an die Rheinmündungen vorgeschobenen westlichen zu verstehen. Ostwärts läßt Ptolemäus die Friesen über die Grenzen der niederländischen Provinz Friesland hinaus bis zur Ems wohnen, so daß sie hiernach auch die Provinz Groningen besezt gehabt hätten. Hinter den Friesen ostwärts wohnten dann an der Nordseeküste die „Chauci" der Römer, und zwar nach Ptolomäus die kleinen Chauken bis zur Weser, die großen zwischen der Weser und Elbe; sie hatten also namentlich das jezt zum Königreich Hannover gehörende Ostfriesland und die im Großherzogthum Oldenburg gelegenen, an der Nordseeküste sich ausbreitenden friesischen Distrikte inne.

2) Nach der Völkerwanderung, vom sechsten oder siebenten Jahrh. bis ins elfte herab, finden wir Friesen westwärts, längs der Nordseeküste, von der Maasmündung bis zu der durch den alten Meerbusen Sinkfal nordöstlich von Brügge gebildeten Grenze Flanderns vorgeschoben, so daß die niederländische Provinz Zeeland als ein friesisches Land erscheint. Gleichzeitig begegnen wir oftwärts im Rücken der alten Friesen, in altchaukischem Lande, längs der Nordseeküste Friesen; und zwar bewohnen sie hier zwischen Ems und Weser Ostfriesland und die nördlichen Theile vom Großherzogthum Oldenburg, bewohnen (wie wir nach den einige Jahrhunderte spätern Angaben werden annehmen müssen) zwischen Weser und Elbe einige kleine Küstenstriche, insbesondere das Land Wursten und haben (wie wir ebenfalls erst aus späteren Quellen wissen) an der Westküste der cimbrischen Halbinsel den in neuerer Zeit als Nordfriesland bekannten Uferstrich südlich von Tondern, inne.

Schwerlich kann es einem Zweifel unterliegen, daß wir in diesen östlichen Friesen im altchaukischen Lande, die Nachkommen der alten Chauken erblicken müssen, die ihre Wohnsize behauptet haben; sie treten, nachdem ein großer Theil des Volkes ausgewandert ist, unter dem Namen der ihnen benachbarten und nahe verwandten Friesen auf. Es ist zuerst von Ettmüller (in Scopes Vidsidh, Zürich 1839, p. 16) beachtet worden, daß die Chauci der Römer und Griechen in den ältesten angelsächsischen Quellen unter der Benennung Hugas vorkommen; s. auch 3. Grimm, Gesch. der deutschen Sprache, S. 674; ihren Namen bewahrte das spätere friesische Gau Hug-merke an dem Ufer des Laubach, in der Provinz Groningen 1); die Hug-merke ist wörtlich das Grenzland der Hugen gegen die benach

1) Erwähnt wird das Gau in folg. Quellen: „inde (von Dockum im friesischen Ostergo) procedens, transivit fluvium Loveke, venitque ad locum Humarcha..; inde transiens venit Thrianta«. (Die nicht friesische Drente, in der Groningen lag) Anskarii Vita S. Willebadi c. 3, Pertz 2 p. 380; »Karolus constituit Lidgerum doctorem in gente Fresonum ab orientali parte fluminis Labeki super pagos Hugmerchi, Hunusga, etc.« Vita S. Liudgeri c. 19, Pertz 2 p. 410; leßtere Stelle ist übergegangen in das Scholion 4 zu Adam von Bremen, Pert 9 p. 289. In einem Zusaß zu Urk. a. 855 »in pago Humerki in villis etc.«, Lacomblet 1, p. 31. In den Texten dreier Urk. von 970, 996 und 1129 Lacomblet p. 68, 79 u. 202, find die Namen von vier fries. Gauen entstellt; Falcke Trad. Corbej. p. 452 giebt die richtige Lesart »Humer che«; im Reg. Sarachonis S. 641 in R. in pago Hugmerchi.« Falcke. Später beschränkte fich der Name Hugmerke auf das westliche Viertel des alten Gaues, das in neuerer Zeit s. g. Humsterland: der gleichzeitige Friese Emo nennt beim Jahr 1231 »illos de Huge-merke« Matth. Anal. 2 p. 92; s. a.

barten alten Friesen. Allerdings erscheint hiernach nicht die Ems, wie Ptolemäus angiebt, als die alte Grenze der Friesen und Hugen, sondern der um etwa fünf Meilen weiter westwärts gelegene Laubach; und wir werden entweder eine Ungenauigkeit in den Angaben des Ptolemäus vorauszusehen haben, oder annehmen müssen, daß die Hugen nach der Römerzeit, indem die Friesen sich weiter westwärts über Zeeland ausbreiteten, ihnen nachdrängten und sich der früher friesischen Gegend, zwischen Ems und Laubach (d. i. der Provinz Groningen) bemächtigten. Fest steht es, daß nicht die Ems, sondern der Laubach eine Scheidelinie in dem später friesisch genannten Lande abgab. Als der heilige Willehad ums Jahr 778 in jenen Gegenden das Evangelium predigte, bestand, wie Anskars Lebensbeschreibung zeigt, ein Gegensatz zwischen den Friesen westlich und östlich vom Laubach; in der successiven Unterwerfung Frieslands unter das Frankenreich machte der Laubach einen Haltpunkt, das ihm östlich gelegene Friesland wurde erst ums Jahr 785 fränkisch, nachdem das Land westlich von ihm es bereits mindestens ein halbes Jahrhundert gewesen war; nach Ausweis des alten friesischen Volksrechts, das in der uns aufbehaltenen Fassung Karl d. Gr. zu vindiciren ist, erstreckte sich von dem in drei Theile zerfallenden Frieslande der mittlere vom Flie bis zum Laubach (lag inter Laubachi et Flihum"). Das bündigste Zeugniß dafür, daß die Bewohner des Landes zwischen Laubach und Ems demselben Stamme angehörten, mit denen des Landes zwischen Ems und Weser, liefert aber ihr mittelalterlicher Dialekt: die friesische Sprache in den Rechtsaufzeichnungen des 13. und 14. Jahrhunderts aus jenem Landestheile (aus dem alten Hunse-go, Fivel-go u. f. w.), stimmt unleugbar überein mit der in gleichzeitigen Rechtsaufzeichnungen aus diesem (aus dem Ems-go, dem Brokmerland u. s. w.), während beide gemeinsam sich nicht unerheblich unterscheiden von der friesischen Sprache in gleichzeitigen Rechtsaufzeichnungen aus dem Lande zwischen Laubach und Flie.

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3) Seit dem 11. Jahrhundert verschwand in den Provinzen Holland und Zeeland der Name der Friesen; westlich vom Flie behauptete er sich nur auf den Inseln Texel und Wieringen, sowie in einem kleinen, ihnen benachbarten Distrikt, nördlich von Alkmaar, der noch heute als Westfriesland bekannt ist und die Gegend um Medenblick, Enkhuizen und Hoorn umfaßt. -Als friesisch erscheint seitdem, abgesehen von jenem kleinen, Westfriesland", nur das alte friesische Land zwischen Flie und Laubach (die niederländische Provinz Friesland"), und das, wie unter Nr. 2 erörtert wurde, früher chaukische Friesland östlich vom Laubach. In leyterem traten die Gaue zwischen Laubach und Ems allmälig zu dem auf ursprünglich nicht friesischem Grunde erbauten Groningen in nahe Verbindung, und verwuchsen mit ihm zu der „Provinz Stad end Lande", d. i.,,Groningen end Omme-landen"; sodann grenzten sich östlich von der Ems, neben der 1454 bort freirten,,Grafschaft Ostfriesland", im heutigen Großherzogthum Oldenburg die Herrschaft Jever" (im friesischen Wangerland und Oftringen) und die „Grafschaft Oldenburg“ (im friesischen alten Rüstringen und dem fäch

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»statuta terrae Hummerke« Fries Rq p. 358; in Urf. a. 1338 u. 1361 »terra Hummerke Driessen p. 142, 229; a. 1366 »terra Hummercensis« Dr. p. 258; a. 1378 >Hummerkerland« Dr. p. 345 etc.; a. 1506 »ampt Hompsterlant« Schwarzenb. 2. p. 64. Der alte Hauptort in der Hugmerke und Siz des Dekans war Olden-hove, mit einer früh gestifteten Probstei, vielleicht schon unter dem locus Humarcha« in der Vita S. Willebadi gemeint ; gl. »Antiqua curtis alias Hummerze« Münster. Dec. reg. bei Ledebur p. 103; in Urf. a. 1361 »praepositura llummercensis« Dr. p. 229; a. 1378, 1395, 1396 »di provest van Hummerke« (»Hummerse«) Dr. p. 350, 475. Fries. Rq p. 383.

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